“Fassbinders größtes und schönstes, erschreckendes und hinreißendes, wildes und zugleich äußerst diszipliniertes Werk.” Mit diesen Superlativen beurteilte die ZEIT 1980 den Start der Fernsehserie “Berlin Alexanderplatz” im Ersten Deutschen Fernsehen.
900 Minuten, 13 Teile plus Epilog und in den Hauptrollen Hanna Schygulla und Günter Lamprecht – Berlin Alexanderplatz ist so etwas wie die “Faust des deutschen Fernsehens”. 1980 im westdeutschen Fernsehen ausgestrahlt, wurde das Werk nun unter dem Label Arthaus in einer Neufassung auf den DVD-Markt gebracht, die vor allem von Juliane Lorenz verantwortet wird, eine von Fassbinders Cutterinnen und seine letzte Lebensgefährtin. Wir sagen euch, was die Box taugt und wieso Berlin Alexanderplatz zu den bedeutendsten Fundstücken des deutschen Fernsehens gehört.
Kriminelle, Prostituierte, Zuhälter – die Handlung nach dem Roman von Alfred Döblin, der 1929 erschien, entsprach sicher nicht der gutbürgerlichen Vorstellung eines “angemessenen” Romans. Nicht nur im Inhalt, auch in der Form galt Döblins Roman als “modern” – und ist es bis heute geblieben. Döblin verwendete als Erzählmethode den Bewusstseinsstrom, den “Stream of Consciousness”, den bereits James Joyce 1921 in seinem Ulysses angewandt hatte. Fassbinder las den Roman mit 14 Jahren und beschloss, ihn zu verfilmen. Der Roman habe sein Leben in der Pubertät gerettet, so Fassbinder. Enttäuscht von der ersten Verfilmung des Weltromans, Berlin Alexanderplatz, dauerte es jedoch noch Jahre, bis Rainer Werner Fassbinder sich an das Großprojekt wagte, welches heute als sein brillantes Spätwerk gilt.
Was macht Fassbinder mit Döblins Werk?
Es beginnt mit einer Haftentlassung. Günter Lamprecht, der bereits in Fassbinders Welt am Draht, Martha und Die Ehe der Maria Braun mitgespielt hatte, stolpert aus dem Tegeler Gefängnis und hält sich erst einmal die Ohren zu. Zu laut, zu gewaltig erscheint ihm die Welt. Wie er mit ihr fertig werden soll, wie sie ihn fertig macht – das ist das Leitthema von Berlin Alexanderplatz, welches Fassbinder offenkundig so faszinierte.
Schon immer zwischen Narzissmus, Sadismus und Opfer-Selbstmitleid hin- und hergerissen, bot der Roman für Fassbinder die Grundlage, seine Neurosen zu verbildlichen. Dabei hielt er sich, was den Handlungsverlauf anging, auch an Döblin. Allerdings deutete er das Werk in Richtung der Freudschen Psychoanalytik um. So wird im Epilog (der letzten Folge der Serie) ein Leichnam gezeigt, neben dem sich ein Paar liebt: Der Sohn hat den Vater getötet, um mit der Mutter den Inzest zu begehen. Dass der WDR erlaubte, dies im Familienabendprogramm auszustrahlen, zeugt von einem deutlichen Respekt gegenüber Fassbinder, der nach eigenem Bekunden das Publikum zu therapieren versuchte.
14 Folgen à 90 Minuten – wöchentlich sollte der deutsche Fernseh-Zuschauer seine Portion Fassbinder abbekommen und sich zum gesünderen Menschen therapieren lassen. Als dieser Versuch misslang – die Quoten rutschten nach Folge 3 in den Keller – verfiel Fassbinder, der zu diesem Datum bereits Morddrohungen erhielt, in eine wochenlange Depression. Lange sollte er nicht mehr leben.
Das Bonusmaterial der DVD-Box
Das Bonusmaterial dieser aufwändig restaurierten Box wendet sich direkt an die Fassbinder-Fans und solche, die es werden wollen. Auch filmtechnisch Interessierte kommen in den beigefügten Dokumentationen auf ihre Kosten, da der Restaurationsprozess nachgezeichnet und erklärt wird. Neben einer mit Sondermaterial vollgepackten DVD beinhaltet die Box auch ein umfangreiches Booklet, in welchem neben einigen Kommentaren auch Fassbinders eigene Überlegungen zu Berlin Alexanderplatz enthalten sind.
Beginnend mit der einstündige Dokumentation Ein Megafilm und seine Geschichte von Cutterin und Fassbinder-Lebensgefährtin Juliane Lorenz zeichnet sich das Bonusmaterial vor allem durch seine Tiefe aus. Fast alle Darsteller kommen darin zu Wort. Lorenz besuchte Hanna Schygulla, Günter Lamprecht, Gottfried John und Fassbinders Kostümbildnerin Barbara Baum und interviewte sie zu ihren Eindrücken aus dem Megaprojekt. Witzig ist dabei vor allem, wenn sich Schygulla überhaupt nicht mehr erinnern kann oder wenn Lamprecht erzählt, wie er zu der Rolle kam (Fassbinder: “Du bist der Biberkopf!”, Lamprecht: “Schön, aber wer ist das?”).
Das zweite, 44minütige Feature zeigt ein Making-of, in dem man Fassbinder und die gewaltige Crew bei den Dreharbeiten beobachten kann, was durchaus spannend gestaltet ist. Wer wissen will, wie die Aufnahmen entstanden sind, die Kamerafahrten etc., ist hier genau richtig. Unterhaltsam ist es allemal, wenn Fassbinder rauchend und in Rodeo-Kluft bei der Arbeit zu sehen ist. Ein weiteres Special zeigt die Restauratoren bei der Arbeit. Vor allem die dunklen Bilder des im 166-Format gedrehten Originals machten Xaver Schwarzenberger dabei zu schaffen.
Die weiteren Features sind im Grunde genommen zu vernachlässigen: Eine Bildershow zeigt einzelne Aufnahmen aus dem Film, filmtechnisch Interessierte können den Vergleich der Originalbilder mit den restaurierten in einer Fotoshow nachvollziehen. Die Credits werden als gesondertes Bonusfeature ausgewiesen, ebenso eine Zusammenfassung für die Fernsehzuschauer.
Auf amazon.de gibt es die Box für 54,99 Euro kaufen.
15 Stunden Fassbinder am Stück – was haltet ihr von Berlin Alexanderplatz?