Wahrer Horror ist unsterblich. Er überdauert Generationen und ersteht für jede nachfolgende wieder und wieder von den Toten auf. Er lässt uns das Blut gefrieren und spricht ewige Wahrheiten, ewige Ängste an. Ob längst zu Staub zerfallene Generationen, oder die, die noch nicht geboren wurden: Die Angst vor dem Dunkeln, vor dem Unbekannten, vor dem Tod und dem Danach eint sie alle. Und wahrer Horror labt sich an eben diesen Ängsten. Wahrer Horror ist ein Vampyr ...
Wie seine Figuren zwischen Leben und Tod, zwischen Realität und Traum gefangen sind, so ist auch Vampyr - Der Traum des Allan Grey selbst ein merkwürdiges Halbwesen, auf ewig verdammt, im Niemandsland zwischen Stumm- und Tonfilm zu wandeln, weder das eine, noch das andere, und doch ein bizarres Geschöpf beider Welten. Ein Film, so verstörend, so fesselnd, so bahnbrechend, dass hoffman587 nicht übertreibt, wenn er das seinerzeit verschmähte Meisterwerk zu einem Wunder des Kinos erklärt.
Der Kommentar der Woche von hoffman587 zu Vampyr - Der Traum des Allan Grey
Ein wunderbarer Tag, um einen solchen Film hier zu beschreiben, wo es
letztes Jahr noch Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum war, ist es dieses Mal Dreyer mit Vampyr. Denn wie lässt sich ein solcher Film nur beschreiben? Geboren
zwischen Zeit der großen Stummfilme und der Zeit des Tonfilms. Gefangen
in einer Zwischenwelt, weder geboren noch gestorben. So zumindest mutet Carl Theodor Dreyers (mein neuer, dänischer Heiliger) Vampyr aus dem
Jahre 1932 an. Irgendwo dazwischen. Eine wirkliche Einordnung wird ihm
weder im Genre gerecht, noch in der Klassifizierung seiner Gattung. Heute
wie damals.
Damals nur als Misserfolg, heute als Meilenstein des
klassischen Horrorfilms, wie auch neben Murnaus Nosferatu (1922) als
Definitionswerk des Vampires. Außerdem Dreyers erster Tonfilm, dabei
ertönt dieser hier selbst nur selten. Und wenn: Unbedeutend,
unkenntlich, missverständlich und fragmentarisch. Für Dreyer verliert
das Wort - wie ironisch auf sein Schaffen bezogen - an jeglicher
Bedeutung und erscheint so mehrfach als irrelevant.
Ist denn überhaupt ein Wort vonnöten, fragt Dreyer? Ein
unkonventioneller Leitgedanke in seiner zeitlichen Einordnung, also zu
sehen als begraben. Und enthüllt uns das nicht irgendwie ein gewisses
Vampirmotiv als Reflexion? Clever. Der Stummfilm überlebt den Tonfilm.
Alt trifft auf neu und Dreyers Werk ist verschlungen von der Zeit. Als
ewiges Rätsel wie auch als eigenwilliges Artefakt mit seinen
eingeblendeten Texttafeln, statt Worte oder Dialoge. Nur flüstern
und wispern. Verzerrt. Unwirklich.
So sind es demnach die Bilder, die
Dreyer sprechen lässt. Die rauschenden, verdichtenden, undurchsichtigen
Bilder, die es zu entschlüsseln gilt - wenn überhaupt möglich - hellklar und doch so nebelig, und in seiner Intention mysteriös. Man muss nicht
lange suchen, um zu bemerken, dass sich hiermit Dreyer auf den
Expressionismus beruft (inklusive seiner grotesken Anleihen), und somit
eine selten intensive, befremdliche Stimmung schafft, als würde über
seinem Werk ein unheilvoller Schleier liegen. Subtil experimentiert
Dreyer, entführt und begibt er sich auf eine Reise in die Dunkelheit,
fasziniert aber mit seinen Möglichkeiten.
Schon der deutsche Beititel deutet Surrealismus an, Dreyer wechselt unentwegt zwischen Alptraum und Traum, und mittendrin sein Protagonist, der Student Allan Grey - auf der Durchreise in einer fremden Stadt, genannt Courtempierre. Die Geschichte ähnelt einer vergangenen Volkssage . Es kommt nicht nur so vor, Dreyer würdigt hiermit den klassischen Grusel - nicht ohne Grund pflegt sein Protagonist scheinbar (mit der eindeutigen Einordnung des gesitteten Bürgers) eine Vorliebe für diesen und reflektiert zugleich so dessen Sehnsüchte. Mit dieser Tradition bindet Dreyer die schaurige Romantik in sein Werk ein - traumhaft - und erinnert an eine längst vergessene Epoche. Ein wahres Wunder von Film.
Unvergesslich gliedern sich dazu (technisch revolutionär) bewegliche
Schatten, tanzen, faszinieren - kombiniert mit Plansequenzen, während
die Beleuchtung (auch in Bezug auf die Schatten) irritiert und Dreyer
besonderen Wert auf die räumliche Architektur legt, sein Werk wie den
filmischen Raum in Frage stellt, aus ihm herausbricht, mit ihm spielt
und die Möglichkeiten ergreift.
Vielleicht erinnert deswegen auch Dreyers
Film in seiner filmischen Struktur an ein legendenhaftes Schauermärchen
vergangener Tage. Initative in der Kameraführung, sie studiert, wie
analysiert und Dreyer, der psychologisiert den Geist seiner Definition.
Denn auch seine Figuren stellt Dreyer in Frage, ob Wahn oder
Wirklichkeit, zwischen Realismus (gibt es den überhaupt?) und Irrealis.
Was sind sie? Nur unheimliche Schattenlichter?
Und dann das Mysterium höchstpersönlich: Der Vampir. Der
emanzipierte, weibliche Vampir (im Grunde mit Verbindung zum
märchenhaften Motiv der Hexe). Dreyer definiert ihn als Urangst und
gespenstischen Blutsauger, zugleich setzt er sich aber aus bekannten
Leitgedanken der Kollidierung vom Alten (dem Vampir) und dem Neuen (den
Stadtbewohnern) zusammen, der auch als hintersinniges Element aufgefasst
werden darf. Wie bei Tobe Hooper, wobei: Noch viel mehr bezüglich der
Differenz von Stummfilm und Tonfilm, in Bezug auf die Filmgeschichte.
Andererseits symbolisiert der Vampir somit auch die Adelsherrschaft,
so dass auch Dreyer direkten Kontext zu Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari aufbaut. Das äußerst sich insofern, als dass der Vampir selbst
Gehilfen, die willenlos unter seinem Bann stehen, befehligt. Wie bei
Wienes expressionistischem Zombie im Bann seines Magiers. Dreyers
ewiges Spiel mit Schein und Sein, wenn sich der Student konfrontiert
sieht mit dem eigenen Tode in der Enge des Sarges - ein beklemmendes
Motiv zwischen Leben und Tod wird essentiell für Dreyers Werk und dessen
hypnotische Stimmung und profitable Wirksamkeit, und gerade deshalb in
seiner Aussage ambivalent. Denn letztlich spekuliert man nur: Was ist
Wirklichkeit? Was ist Traum?
Ich hoffe, eines weiß man genau: Dass Dreyers Werk auch weiterhin die Zeit bestehen wird. Ich wiederhole mich gern, auch wenn ich diese Form der pseudo-epischen Schreibweise selbst missachte: Dreyer als Heiliger des Kinos, sein »Vampyr« ein morbides Wunder des Kinos. Wohlgemerkt: Inflationär gesagt.