Wir schreiben das Jahr 1966. In der Tschechoslowakei liegt Aufbruchstimmung in der Luft. Der eiserne Griff der staatlichen Zensur hat sich gelockert und die Filmemacher spüren Freiheiten wie schon seit einer langen Zeit nicht mehr. Innerhalb dieses Jahrzehnts drängen sich junge Regisseure in den Vordergrund, die mit experimentellen Werken die gesellschaftlichen Missstände des Landes kritisieren - zumindest bis mit dem Prager Frühling 1968 diese liberale Phase ein jähes Ende findet. Zu diesen Regisseuren gehörte auch Vera Chytilová, deren Werk Tausendschönchen - kein Märchen ich heute mein Herz für Klassiker schenken möchte.
Tausendschönchen ist kein Märchen, sondern eine Herausforderung
Machen wir einen kleinen Zeitsprung ins Jahr 2016. An meiner Universität wurde für meinen Studiengang ein Modul, bestehend aus zwei Film-Seminaren, angeboten (Tschechoslowakische Neue Welle, DDR). "Klingt spannend", dachte ich so bei mir und im Rahmen des Neue Welle-Seminars kam ich schließlich erstmals in Kontakt mit Vera Chytilovás eigenwilligem, vereinnahmenden wie faszinierend-konfusem Werk Tausendschönchen. Selten fühlte ich mich von einem Film dermaßen herausgefordert und selten war ich nach dem Abspann so sprachlos. Es war nicht einfach nur ein weiterer Film, sondern weitaus mehr - es war eine besondere Erfahrung und das aus mehreren Gründen.
Der Film, in dessen Zentrum die beiden jungen Frauen Marie I und Marie II stehen, erzählt seine Geschichte non-linear. Allein durch seine unkonventionelle Erzählstruktur fordert Tausendschönchen seinen Betrachter heraus und entführt ihn in ein narratives Labyrinth, aus dem er so schnell nicht mehr entkommen kann - oder ihm, wie in meinem Fall, auch gar nicht entkommen möchte. Die Welt, in der beide Maries leben, empfinden sie als verkommen und schlecht: "Die Welt ist verdorben, also wollen wir es auch sein." Fortan streben sie stets nach ihrem persönlichen Vorteil, ohne dabei Rücksicht auf ihre Mitmenschen, ihre Umwelt oder einander zu nehmen.
Tausendschönchen: Experimentierfreudigkeit, der ich mich nicht entziehen kann
Audiovisuell ist Tausendschönchen noch immer eine Wucht und droht, uns Zuschauer mehrfach zu überwältigen. Chytilovás Experimentierfreudigkeit ist klar zu erkennen und entlädt sich explosionsartig in teils wahnwitzigen Szenen - beispielsweise gegen Ende (Achtung, Spoiler), wenn sich die beiden Antiheldinnen gegenseitig mit Scheren zerschneiden, bis wir glauben, eine Collage zu sehen. (Spoilerende) Schnell verlor ich mich hierbei im eigenwilligen Rhythmus des Films und folgte, wie Marie I und II, dem Takt des Schnitts. Ehe ich mich versah, war es auch schon um mich geschehen. Bild und Ton habe ich selten zuvor derart perfekt aufeinander abgestimmt, doch zur selben Zeit dermaßen anarchisch, erlebt - der Film selbst erscheint als atmendes Wesen, sobald allerdings dieser Punkt erreicht ist, geht der Zuschauer der Regisseurin auf den Leim, denn Tausendschönchen will mitnichten verstanden werden.
In seiner ausdrucksstarken Bildsprache sowie der unbändig über dich hereinbrechenden Wucht aus diversen Filtern und Montagen fühlst du dich, als befändest du dich inmitten eines Hurrikans, der dich mit sich hinfortfegt. Obwohl die Bilder durchaus diverse Interpretationen zulassen, die wir im Rahmen des eingangs erwähnten Seminars lang und breit diskutierten, glaube ich, Tausendschönchen will gar nicht verstanden werden. Gewiss lassen sich in all dem Wirrwarr gesellschaftskritische Töne erkennen, allerdings stehen diese nicht im Mittelpunkt. Zudem verflüchtigen sie sich inmitten dieses Meeres aus audiovisuellen Reizen sowieso derart schnell, dass ich mich kaum länger als für den Bruchteil einer Sekunde auf sie konzentrieren konnte. Nein, viel mehr will Tausendschönchen erfahren werden. Dieser Film ist ein Erlebnis - auf Zelluloid gebannte Anarchie.
Tausendschönchen als Kino in Reinform?
Marie I und Marie II begeben sich auf eine Reise, von der wir Zuschauer sofort wissen: Sie wird kein gutes Ende für unsere Antiheldinnen finden. Achtung, Spoiler: Sie zerstören hierbei nicht nur die Welt um sich herum, sondern auch sich selbst sowie den kompletten Film. Sie zerschneiden sich, bis nur nur noch ihre Köpfe herumschweben - verrückt und absolut faszinierend! (Spoilerende) Dabei pfeift Chytilová auf gängige Konventionen des Kinos und lässt gegen Ende erneut einen audiovisuellen Taifun über uns hereinbrechen. In diesen Momenten wird klar: Das Kino hat schier unendliche Möglichkeiten, selten wurde diese allerdings so wundervoll genutzt wie in Tausendschönchen.
Die tschechoslowakische Regierung war dem Film gegenüber indes jedoch weitaus weniger positiv gestimmt, denn nach dem Prager Frühling wurde Tausendschönchen, welcher damals wie heute aus der Masse an Filmen herausragt, aus dem Verkehr gezogen. Von staatlicher Seite wurden speziell der verschwenderische Umgang mit Lebensmitteln sowie das maßlose Handeln der Antiheldinnen harsch kritisiert. Die beiden Maries scheinen darüber hinaus keinerlei moralische Prinzipien zu besitzen; selbst wenn sie am Ende des Films noch einmal die Chance bekommen, es besser zu machen als bisher, lassen sie diese letztendlich doch ungenutzt und müssen sich in ihr Schicksal fügen.
Vera Chytilovás Tausendschönchen gehört zweifelsohne zu den beeindruckendsten Filmen, die ich bisher gesehen habe und das liegt insbesondere an seiner unkonventionellen Art und seiner unbändigen anarchischen Energie, die aus dem Bildschirm förmlich heraussprang und mich unweigerlich in ihren Bann zog. Das Abenteuer der beiden Antiheldinnen, die ebenso verdorben sein wollen wie die Welt, in der sie leben, ist mehr als nur ein Film - es ist eine Erfahrung.
Konnte euch Tausendschönchen ebenfalls in seinen Bann ziehen?