1927 - Das Kino erhält eine Stimme

02.07.2012 - 08:50 UhrVor 13 Jahren aktualisiert
Der Jazz-Sänger
Warner Bros. Pictures
Der Jazz-Sänger
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Der Ton erscheint uns heute in Filmen als Selbstverständlichkeit. Als 1927 allerdings der erste abendfüllende Spielfilm mit Dialog und Musik veröffentlicht wurde, war das eine große Sensation. Leihen wir dem Kino ein Ohr.

Fünfundachtzig Prozent der menschlichen Kommunikation verlaufen nonverbal – und was wäre ein Streit ohne das abwehrende Verschränken der Arme, ein Flirt ohne den verführerischen Augenaufschlag und eine Wegbeschreibung ohne wildes Gestikulieren in eine Richtung? Trotzdem wissen wir es durchaus zu schätzen, dass wir auch unsere Sprache nutzen können, um unserem Gegenpart im Streit ordentlich eins auf den Deckel zu geben. Im Film war das über Jahrzehnte nicht möglich. Und als die Innovation schließlich doch kam, war sie eine Sensation.

Als wildes Gestikulieren nicht mehr reichte
Es ist wohl eines der größten Missverständnisse der gesamten Filmgeschichte: der Stummfilm. Denn tatsächlich war auch in seinen Anfangsjahren der Film niemals stumm. Ganze Orchester oder zumindest einzelne Pianisten begleiteten das Geschehen auf der Leinwand mit den passenden Klängen und sorgten dafür, dass die Menschen im Zuschauerraum die Story nur noch gebannter verfolgten.

Irgendwann wollte das Publikum aber mehr. Schon seit Anfang des Jahrhunderts hatte es Versuche gegeben, Bild und Ton zusammenzubringen, und nach und nach entstanden vertonte Kurzfilme und Werbespots mithilfe verschiedenster Aufnahmeverfahren. Ein Problem gab es aber noch: das mit der Synchronität funktionierte nicht über einen längeren Zeitraum. Der Lichtton lieferte die Lösung und reservierte auf dem Filmstreifen eine eigene Tonspur. Endlich stand auch abendfüllenden Werken nichts mehr im Wege.

Die Geburt des Musicals
Ein ehemals armer jüdischer Sänger feiert Erfolge mit Auftritten am Broadway und gerät darüber in einen Konflikt mit seinem Vater, der ihn lieber in der Synagoge sehen würde – diese Geschichte schrie förmlich nach Musik, Dialogen, eben der ganzen Bandbreite des Tonfilms. Trotzdem war Der Jazzsänger ursprünglich noch als Stummfilm geplant: Mimik, Gestik, Zwischentitel – die Bilder sahen noch nicht nach einer großen Innovation aus.

Die Neuerung lag eher in den vertonten Sequenzen des Films: Al Jolson spielte schließlich einen Broadway-Star, und da durften natürlich einige Bühnenauftritte nicht fehlen. Seine Lieder wie Blue Skies und Mammy wurden mit dem Nadeltonverfahren Vitaphone für die Ewigkeit festgehalten. Ein Plattenspieler wurde dabei starr an einen herkömmlichen Projektor gekoppelt – et voilà – fertig war das erste Musical. Aufgenommen wurde per Vitaphone mit nur 22 Bildern pro Sekunde, und somit wäre auch geklärt, wieso auf modernen Abspielgeräten die Stimme des Sängers so unnatürlich hoch erklingt.

Schwarz auf Weiß
Heute erinnern wir uns an das Werk des Regisseurs Alan Crosland allerdings nicht nur als ersten Tonfilm. Es kam auch ein Stilmittel darin zum Einsatz, das für die 20er Jahre vielleicht normal erschien, heute aber einen eher schalen Beigeschmack hat. Hauptdarsteller Al Jolson war in Amerika berühmt für seine Auftritte als Blackface, was nichts anderes bedeutete, als dass sich ein weißer Künstler das Gesicht schwarz anmalte, um in dieser Maskerade den Typus des fröhlich-naiven, trunkenen und einfältigen „Negers“ darzustellen. Auch in Der Jazzsänger zeigte er sich so bei einem Auftritt.

Trotz aller berechtigter Kritik an diesem Phänomen gibt es aber auch eine zweite Seite: die Zeit in den 20ern war eine andere. Klischeehaft parodiert wurden damals besonders in Amerika beinahe alle Minderheiten und Nationalitäten. Es bot einen Weg, sich mit dem eigenen Ideal vom Schmelztiegel und Land der Träume auseinanderzusetzen. Und auch Al Jolson war alles andere als ein Rassist. Er nutzte die Unterhaltung, um für Toleranz zu werben und vertraute auf die universelle Sprache von Musik und Humor.

Das schwere Kreuz des Toningenieurs
Der Jazzsänger war letztlich auch die Geburtsstunde des Musicals, das einige Jahrzehnte lang eine Menge sehenswerter Werke hervorbrachte, bevor Filme wie High School Musical es langsam wieder zu Grabe trugen. Busby Berkeley inszenierte aufwendige Choreografien, Tänzer wie der gottgleiche Fred Astaire erfreuten sich zunehmender Beliebtheit, und ganz besonders ein Musical hat Kultstatus erreicht, das sich mit den Problemen des Übergangs vom Stumm- zum Tonfilm auseinandersetzte.

In Du sollst mein Glücksstern sein, besser bekannt als Singing in the Rain, erfahren wir von den alltäglichen Problemen der Toningenieure, die plötzlich mit riesigen Mikrofoninstallationen, Hintergrundgeräuschen und divenhaften Stars mit unerträglichen Piepsstimmen zu kämpfen hatten. Schon allein für dieses liebevoll gestaltete Werk hat sich die Einführung des Tonfilms absolut gelohnt.

Was die Menschheit sonst noch im (Film)Jahr 1927 bewegte:

Sechs Filmleute, die geboren sind
20. Februar 1927 – Sidney Poitier, Carter Preston aus Der Schakal
24. Februar 1927 – Emmanuelle Riva, die Französin aus Hiroshima mon amour
01. März 1927 – Harry Belafonte, Seldom Seen aus Kansas City
03. Juli 1927 – Gina Lollobrigida, schöne Herrscherin aus Salomon und die Königin von Saba
14. Oktober 1927 – Roger Moore, Agent 007 aus James Bond 007 – Im Angesicht des Todes
06. Dezember 1927 – Sergio Corbucci, Regisseur von Bud Spencer –Filmen wie Zwei sind nicht zu bremsen

Drei Filmleute, die ihr Debut feierten
Mickey Rooney in Orchids and Ermine von Alfred Santell
Barbara Stanwyck in Broadway Nights von Joseph C. Boyle
Fred Zinnemann – Ausbildung an der Ecole Technique de Photographie et de Cinématographie in Paris

Die drei kommerziell erfolgreichsten Filme
Der Jazzsänger von Alan Crosland
Flügel aus Stahl von William A. Wellman
It von Clarence G. Badger

Drei wichtige Ereignisse der Filmwelt
10. Februar 1927 – Uraufführung von Metropolis von Fritz Lang in Berlin
26. März 1927 – Alfred Hugenberg übernimmt das fast bankrotte Filmunternehmen Ufa
11. Mai 1927 – in Los Angeles wird die Academy of Motion Picture Arts and Sciences gegründet

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