Die Gefahr einen Klassiker durch ein schlechtes Remake zu entweihen und es so aussehen zu lassen, als ob man es ausschließlich fürs Geld macht, ist immer gegeben. Manchmal muss man sich die Frage stellen, braucht es unbedingt ein Remake? Gute Gründe sind also von Nöten, um sich oben genannte Vorwürfe nicht machen lassen zu müssen. Ein Grund für ein Remake, könnte eine Aussage von Agatha Christie über den Klassiker von 1974 selbst sein: Hercule Poirot (damals noch Albert Finney), der berühmteste Detektiv der Welt, soll nämlich in der Vorstellung der Autorin den größten und prächtigsten Moustache auf dieser Welt haben, den man sich vorstellen kann. Den Schnurrbart, den Poirot gewöhnlich noch mit einer klassischen Bartbinde nachts in Form hält –wir befinden uns im Jahre 1934- empfand die Meisterin des Kriminalromans als vergleichsweise mickrig und zu klein. Kenneth Branagh, der neuen Poirot spielt, hatte daher einen Bart, der –ohne zu übertreiben- fast die ganze Leinwand einnahm. Das sollte ganz offenbar eine postume Verbeugung vor der 1976 verstorbenen Autorin darstellen. Wer aber bislang nichts von ihrer Kritik wusste, dem konnte das schnell mal als gewollt einfallsreich bzw. als ein optisches Highlight vorkommen, das den Film abheben sollte. Ehrlicherweise muss auch ich zugeben, dass mir der Bart etwas zu unnatürlich und überdimensioniert vorkam. Vor allem irritierte mich immer wieder die Tatsache, dass Poirots Bart in dieser Verfilmung zweifach hochgezwirbelt war. Vielleicht hätte es auch gereicht, wenn der Bart einfach ein Mal richtig Salvador-Dali-mäßig ausgerichtet worden wäre, aber so wirkte er dann doch ungewollt etwas komisch…
Für alle diejenigen, die weder das Original noch das Buch zu Mord im Orientexpress kennen, eine kurze Inhaltsangabe: Wie es der Name schon sagt, passiert ein Mord im Orientexpress und zufälligerweise ist auch gleich der richtige Mann am richtigen Ort –Hercule Poirot- der sich des Falles annimmt. Zu allem Überfluss wird der Zug durch eine Lawine an der Weiterfahrt gehindert. Der Täter muss also noch an Bord sein. Wer der Killer ist, klärt sich im weiteren Verlauf des Films.
Der Film hat einen tollen Look, das kann man jetzt schon festhalten, obwohl ich finde, dass manche Filme kein messerscharfes Bild brauchen, um zu überzeugen. Nach knapp 43 Jahren ist es aber nachvollziehbar, dass man den Klassiker auf den neuesten technischen Stand hebt und zumindest so einer neuen Zuschauergeneration schmackhaft machen möchte. Die Kostüme wirken sehr echt und authentisch und die warmen Farben innerhalb des Zuges stehen in einem harten Kontrast zu den kalten Farben außerhalb. Alleine wenn man sich die Liste des Casts ansieht, weiß man, was die Stunde geschlagen hat: Jonny Depp, Kenneth Branagh, Judi Dench, Michelle Pfeiffer, Penelope Cruz und Willem Dafoe –um nur einige nennen- stehen für höchste Qualität und garantieren fast schon per se ein hochwertiges Filmerlebnis. Aber reichen diese Namen? Dazu äußere ich mich gerne später im Fazit.
Kommen wir aber jetzt zuerst zu der Frage, die wohl alle, die den Film sehen wollen und das Original bereits kennen, am meisten interessiert: Ist das Remake eine bloße 1:1 Kopie und wenn nicht, in welchen Punkten weicht sie vom Original ab?
Ein entscheidender Unterschied ist bereits zu Beginn des Films zu erkennen: Wo das Original den Zuschauer noch gleich am Anfang mit der Entführung eines kleinen Kindes konfrontiert, ist im Remake davon zunächst keine Rede. Erst gegen Mitte des Films wird diese Entführung als ein Geschichte in Form von Rückblenden eingeführt, von der die meisten gehört haben müssen, da jeder im Zug ein paar Worte dazu sagen kann. Was das Original hier besser löst, ist, dass das Ganze bereits von Anfang an in Form von Zeitungsartikeln eingeführt wird, ergo eine Geschichte ist, die bekannt sein muss. Der Klassiker lässt dadurch keinen Zweifel an der Bekanntheit dieser Tragödie aufkommen, bei der Neufassung muss der Zuschauer zuerst einmal kombinieren. Beim Remake erfährt der Zuschauer zusätzlich, was Poirot in Jerusalem gemacht hat, bevor er in den eigentlichen Orientexpress gestiegen ist, nämlich –wie könnte es anders sein- einen Fall gelöst. Eine Reliquie war in einem Heiligtum abhanden gekommen und Poirot fand in einer Rekordzeit den Übeltäter. Ab dann läuft die Handlung zunächst mit ein paar kleinen Abweichungen parallel weiter.
Ein weiterer für mich bedeutungsvoller Unterschied besteht darin, dass die Rolle des Arztes, der in der 74er-Fassung lediglich für die Feststellung des Todes des Reisenden verantwortlich war und immer mal wieder nickend und zustimmend in der Ecke saß, und die Rolle des Oberst Arbuthnot im Remake zusammengeworfen wurden. Damals wurde der Oberst noch von keinem Geringeren als dem Schotten Sean Connery gespielt, jetzt von Leslie Odom Jr., der dankenswerterweise zufällig auch noch Arzt ist. Man kann es sich nur so erklären, dass die Verantwortlichen wegen der Banalität der Rolle des Arztes, der an sich sowieso nur für die Feststellung des Todes im Original diente, diese Rolle nicht unbedingt gesondert besetzen wollten. Das ist nachvollziehbar. Was man auch sehr früh im Film erkennen kann, ist die Zeit, in der er gedreht wurde. Spielte das Thema „Rassendiskriminierung“ im Klassiker noch nicht so eine gewichtige Rolle, so ist das heute umso mehr der Fall. Sehr oft äußern sich die Protagonisten zu ihren Ansichten bezüglich Rassen und inwiefern welche Rassen etwas können oder dürfen oder eben auch nicht sollten. Man merkte an diesen Stellen, dass unsere heutige Zeit einfach ein großes Bedürfnis hat, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen oder sie zumindest immer wieder erneut zu stellen. Wie oft es allein in den letzten Jahren bei den Oscar-Verleihungen dazu gekommen ist, dass dunkelhäutige Schauspieler die Verleihungen kategorisch boykottiert haben, sei es wegen einer Nicht-Berücksichtigung ihrer schauspielerischen Leistungen oder aus anderen Gründen, zeigt die aktuelle Brisanz. Persönlich fand ich Leslie Odom Jr. als Arzt und hohen Würdenträger dennoch nicht sehr authentisch, in Anbetracht der Tatsache, dass der Film 1934 spielt: Historisch betrachtet war es sehr selten, dass Menschen aufgrund ihrer dunkleren Hautfarbe zu dieser Zeit als Arzt arbeiten konnten, was zwar banal ist, aber leider einen Fakt darstellt.
Im weiteren Verlauf ist dann sehr viel ähnlich, wobei beim Original der Zuschauer noch etwas mehr an der Hand genommen und durch die Story geführt wird und die Neuverfilmung an manchen Stellen etwas zerzaust zu sein scheint. Hier werden nach und nach Fakten eingestreut, die der Zuschauer teilweise schon früher gebraucht hätte. Das macht das Original besser.
Achtung ab hier folgt ein harter Spoiler!!!
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Was ich persönlich als die markanteste Abweichung empfand, war das Ende: Nachdem alle Gäste von Poirot als Täter überführt worden waren und sich herausgestellt hatte, dass alle Gäste in Verbindung zu der anfangs erwähnten Kindesentführung standen und der Tote der vermeintliche Entführer war, stellt sie der Detektiv vor die Wahl: Er fordert von den Mördern, dass sie sich entscheiden müssten: Entweder sie töten ihn, um einer Verurteilung zu entkommen, denn er könne nicht schweigen, oder sie töten ihn nicht und stellen sich. Was Mrs. Hubbard alias Michelle Pfeiffer dann macht lässt Poirots gesamtes Vorhaben in sich einstürzen. Denn anstatt ihn mit der vor ihr liegenden Waffe zu erschießen und somit einer Verurteilung zu entgehen, will sie sich selbst richten. Mit allen möglichen Szenarien rechnend hatte Poirot natürlich längst die Kugeln aus der Waffe genommen. Dennoch bleibt ein vager Verdacht, dass er eigentlich damit gerechnet hat, dass sich die Täter eher dafür entscheiden würden, ihn zu töten, weshalb er am Ende einen für ihn ungewöhnlichen Schritt geht. Denn er überlässt es den Mördern letztendlich selbst, sich zu stellen oder mit dieser Schuld zu leben, vielleicht auch im Wissen, dass sie früher oder später im Jenseits die gerechte Strafe ereilen wird, und verlässt den Zug. Im Remake sehen wir eine Reihe betroffener Gesichter, die sich ihrer Schuld bewusst sind; im 74er Klassiker hingegen stoßen die Gäste an und feiern ihr Schnippchen, das sie Justitia geschlagen haben, was heute und bestimmt auch damals sehr befremdlich wirken musste. Die ethische Frage lautet also? Ist ein Mord in so einem Szenario, in dem ein Mensch, der ein wehrloses Kind ermordet hat, plötzlich vertretbar? Wie weit ist das recht dehnbar? Und ist es vielleicht einfach nur menschlich so zu reagieren. Poirot hat sich dazu im Film bereits geäußert: „Wir müssen besser sein als wilde Tiere!“ Der Klassiker sieht das scheinbar nicht so…
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Spoiler Ende
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Noch ganz kurz zu den einzelnen herausragenden Darstellern: Sehr gut gefallen hat mir Kenneth Branaghs Neuinterpreatation von Poirot. Was nämlich schön und zweckdienlich zugleich ist, ist die Tatsache, dass wir beim neuen „Mord im Orientexpress“ auch etwas mehr über Poirot erfahren. Schön deshalb, weil wir so besser verstehen können, warum der Detektiv macht, was er macht, und zweckdienlich, weil die Zuschauer so eine bessere Bindung zum Charakter aufbauen und somit ein weiterer Film mit ihm, der dann höchstwahrscheinlich Tod auf dem Nil heißen wird, gerechtfertigt werden kann. So sieht man gleich in den ersten Minuten einen Poirot, der unbedingt zwei gleich große Frühstückseier verlangt, die exakt 4 Minuten gekocht wurden, weil er nach eigener Aussage nur dann, wenn alles im Gleichgewicht ist, sehen kann, was uneben und somit nicht richtig bzw. falsch ist. Nur durch seine pedantische Art kann er sein, was er ist. An manchen Stellen wirkt er etwas zu übertrieben, als dass es noch glaubhaft wäre, etwa als ob aus dem klassischen Poirot noch zusätzlich ein Rain-Man geworden wäre. Aber im Großen und Ganzen hat Kenneth Branagh, der bei diesem Film auch noch Regie führte, eine tolle Neuinterpretation als Poirot abgeliefert, was bestimmt auch Agatha Christie bestätigen würde.
Wer mir auch noch besonders gut gefallen hat, waren Michelle Pfeiffer in der Rolle der Mrs. Hubbard und Judi Dench als Prinzessin Dragomiroff. Vor allem gegen Ende bekam ich phasenweise von der schauspielerischen Leistung der beiden großartigen Schauspielerinnen eine echte Gänsehaut. Die Emotionen wirkten echt und nicht aufgesetzt. Michelle Pfeiffer war ganz stark; vielleicht war es sogar ihre beste Rolle in ihrer Kariere.
Etwas enttäuscht war ich von Jonny Depp. Nicht weil er schlecht gewesen wäre, sondern weil sein Gesicht zu sehr mit seiner Rolle als Captain Jack Sparrow in Verbindung steht, als dass man ihm diese neue Rolle hätte abnehmen können.
Abschließend kann man also sagen: Der Film ist absolut sehenswert und der Cast ist bis auf wenige Ausnahmen sehr gelungen. War das Remake notwendig? Für mich persönlich nicht, aber wenn es dazu dient, eine neuere Generation an diesen Stoff heranzuführen und wenn man einen so tollen Poirot hat, ist das vielleicht doch nicht so verkehrt gewesen und man kann sich auf den nächsten Teil mit Kenneth Branagh in der Hauptrolle freuen.
6,5/10 Punkten