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Carrie und das Monster im Inneren

19.10.2016 - 09:00 Uhr
Carrie
United Artists/moviepilot
Carrie
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Was ist ein Monster? Ein unansehliches Scheusal, oder jemand, der Schreckliches getan hat? Oder doch vielleicht eher die absolute Verkörperung des radikal Bösen?...

Dieser Artikel entstand im Rahmen der Aktion Lieblingsmonster.

(Dieser Text enthält SPOILER zu Carrie - Des Satans jüngste Tochter).

Als ich hörte, dass es einen neuen Moviepilot-Schreibwettbewerb gibt, konnte ich mich vor Euphorie kaum mehr halten. Das Thema "Lieblingsmonster" klang zuerst mehr als nur interessant; ich wusste, dass sich über dieses Thema eine Vielzahl an unterschiedlichsten Herangehensweisen und Ansätzen ansammeln könnten. Vollkommen hibbelig öffnete ich einen brandneuen, noch leeren Artikel, und setzte mich dran - zumindest hatte ich es vor. Aber die Muse würde einfach nicht vorbeischauen, um mich in die richtige Richtung zu leiten. Mir schwirrten einige der sogenannten Monster durch den Kopf, die in Frage kämen, doch im Laufe des Brainstormings wurde ich mir immer unsicherer, ob sie überhaupt zu besagten Ungeheuern zählen würden. Denn ein Begriff wie "Monster" ist kaum in seiner Boshaftigkeit zu übertreffen. Dachte ich ursprünglich darüber nach, meinen Text über die Munsters zu schreiben, wurde ich immer unschlüssiger darüber, ob sie, als eine der liebevollsten Film- und Fernsehfamilien, diese Bezeichnung allein durch ihr an alte Gruselschinken angelehntes Aussehen sowie einigen Eigentümlichkeiten überhaupt verdienen. Dann ging ich einen Schritt weiter, und überlegte mir, welche "Monster" denn auch tatsächlich Böses vollbracht haben, und ich dachte spontan an Mewtu aus Pokémon - Der Film als Lieblingsmonster, da ich mich sogar mit ihm identifizieren kann. Und genau daran liegt auch der Grund, weshalb ich ihn nicht auswählen konnte: er ist nicht von Grundauf böse, er wurde nur von kleinauf so hart enttäuscht, erschüttert, gedrillt, niedergedrückt und objektifiziert, WEIL er ein Klon ist, WEIL er nicht menschlich ist, dass diese Entwicklung, die dafür sorgte, dass er letztlich die alte Welt vernichten will, um seinesgleichen an die Macht zu setzen, absolut nachvollziehbar wird. Nicht richtig, aber durchaus nachvollziehbar. Er ist kein Monster, es fehlt ihm nur an erfahrener Liebe - die ist ihm nur einmal widerfahren, als er noch im Reagenzglas weilte, und wurde ihm traumatisierenderweise entnommen. Er ist ein überaus emotionaler Charakter. Aus dem selben Grund fiel meine Wahl auch nicht auf Aileen Wuornos aus dem Meisterwerk Monster. Trotz ihres titelgebenden Beinamens ist es eine Figur, die das Leben so misshandelt hat, dass es zwangsläufig eskalieren musste. Eine gebrochene Seele, die heiß lief. Dennoch war ich schon auf dem richtigen Weg: ich suchte kein Monster, welches sich durch Aussehen, Art der Erschaffung oder ähnliche Faktoren unterscheidet, nein. Das Monster musste ein Mensch sein. Zu diesem Zeitpunkt hieß Lieblingsmonster schon längst nicht mehr, dass ich dieses Monster in irgendeiner Weise mag, nein, es handelt sich dabei um das schrecklichste Monster. Also sorry, Mike Glotzkovski.

Und dann fiel es mir wie Schuppen aus den Haaren, um meinen ehemaligen Mathematiklehrer zu zitieren: der brillante Filmklassiker "Carrie - Des Satans jüngste Tochter" bietet das vielleicht erschreckendste Monster von allen. Es ist nämlich keines, welches von einem verrückten Wissenschaftler kreiert wurde, nachts aus Särgen steigt oder uns in unseren Träumen heimsucht, es lebt unter uns, als Teil von uns, wird zwar hin und wieder belächelt, doch niemand würde ahnen, welches pure Böse in ihm heranbrodelt, bis es letztendlich im Finale in Gewalt eskaliert. Die Geschichte von "Carrie" ist die Geschichte einer Frau und eines Monsters. Eines Monsters, welche diese Frau um den Verstand bringt, sodass ihr letztendlich, auch, wenn sie verwandt sind, nur der Ausweg blieb, sie zu töten. Viele, die den Film sehen, empfinden die Frau als das wahre Monster, ich persönlich kann mit ihr mitfühlen, und die vollbrachten Gräueltaten sogar verstehen. Bereits zuvor agierte die Frau grausam und brutal, versteht man aber, was die durchmachen musste, so ist es - ohne es rechtfertigen zu wollen - durchaus verständlich, weshalb sie so agierte. Man fragt sich, wie es die Frau so lange geschafft hat, mit dem Monster zu leben, sich ein Dach mit ihm zu teilen. Die Frau trägt den Namen Carrie White, das Monster Margaret White - ihre Mutter.

Margaret ist ein Monster, das es geschafft hat, durch seinen krankhaften Wahn, alles in mittelalterlichster Tradition zu halten, ihr Kind einzusperren und es in seiner Andersartigkeit so stark zu verurteilen und seelisch wie physisch zu misshandeln, dass diese so dermaßen fremdartig wurde, dass sie von der Gesellschaft verstoßen wurde, was letztlich zum Schulballmassaker führte. Die Taten Margarets sind völlig von Sinnen, und das hat nichts mit ihrem Glauben zu tun, auch, wenn sie ihn immer vorschiebt, um sich zu rechtfertigen. Die von ihr gepriesene Vernichtung von Carries Andersartigkeit, aber auch ihrer Pubertät, Sexualität und Persönlichkeit, die angebliche Teufelsaustreibung, steht im Kontrast zur Quintessenz des Neuen Testaments, welches Liebe und Akzeptanz preist. Margaret White ist ein sehr reales Monster, das es so auch heute noch gibt; vom Wahn getrieben, jede Rebellion, jeden Individualismus, jede Befreitheit und Lust, sowie jeden Fortschritt von der Welt zu entfernen. Für sie sind diese Attribute die wahren Monster, doch ihr ewig währender Kampf dagegen macht sie zu einem um ein Vielfaches größeren Ungetüm ohne Gefühle.

Berechtigte Frage: Kann man da von einem "Lieblingsmonster" sprechen? Treffende Antwort: Jemanden, mit dem ich sympathisiere, oder als ein vielschichtiges und nachvollziehbares Wesen erachte, als Monster zu bezeichnen, das könnte ich nicht ohne schlechtes Gewissen. Ein richtiges Monster ist durch und durch böse, und das ist schauderlicher Kälte. Margaret White ist wie dieser eine Verbrecher, den Ermittler als Foto in ihrer Schublade aufbewahren, dass er sie daran erinnert, warum sie diesen Beruf ausüben. Sie ist wahrhaft ein Monster, denn für sie besteht ihre gesamte Existenz aus dem Verbreiten ihrer Werte und dem Unterbinden jeglicher anderer Zugänge. Nicht aus einem greifbaren intrinsischen oder extrinsischen Grund, sondern, da sie sich dazu berufen fühlt. Ob es auch ihr als Kind so erging wie ihrer Tochter und sie anders als diese jedoch einknickte, wird nicht erläutert, aber sie übt ihr krankhaftes Verhalten mit einer Überzeugung und Kaltblütigkeit aus, die dem freidenkenden Individualisten das Blut in den Adern gefrieren lässt - so sehr verinnerlicht, so boshaft, so monströs. Da ist keine Liebe, keine Emotion, nicht einmal Leidenschaft an ihrer Boshaftigkeit oder Frustration, die sie dazu trieb.

Und dennoch - und das ist das Gruselige an der Sache - niemand außer Carrie scheint das Ausmaß ihrer Gewalt und ihrem Wahnsinn mitzubekommen. Sie wird nicht überall ernst genommen, wenn sie Außenstehende zu bekehren versucht, und die Lehrkräfte der Schule ihrer Tochter erwähnen sie auch nicht gerade positiv, als Carries mangelnde sexuelle Aufklärung zur Sprache kommt, doch die immense Folter, die sie auf ihr Kind ausübte, und mit der sie deren Leben letztendlich in Ruinen stürzte, blieb nach Außen hin unbemerkt. Doch sie trägt das Monster im Inneren.

Wir bedanken uns ganz herzlich bei den Sponsoren der Aktion Lieblingsmonster:

Aktion Lieblingsmonster


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