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Das Telefonläuten, das mir nicht aus dem Kopf geht

14.10.2014 - 12:00 Uhr
Wer nimmt ab?
Prokino (Fox)
Wer nimmt ab?
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Nichts ist in der Regel langweiliger, als am Telefonhörer zu sitzen und zu warten, dass der Angerufene abnimmt. Am besten steckt man auch noch mittendrin in einer Warteschleife. Doch manche Telefonate sind anders als die anderen. Und bei einem Telefonat, da stockte mir bei jedem Klingeln der Atem.

Tuuuut.

Tuuuut.

Tuuuut.

Tuuuut.

Es klingelt. Sonst ist es totenstill im ganzen Raum. Was gut passt, denn in dem müden Dämmerlicht ist eh nichts zu erkennen und es scheint, als säße vor mir nur dieser dürre Junge im schlechtsitzenden Hemd, der vertrottelt vor sich hin grinst, während auf der anderen Seite der Leitung niemand heran geht.

Tuuuut.

Tuuuut.

Tuuuut.

Aber da ist auch noch dieser geschniegelte Herr im Anzug, von Kopf bis Fuß makellos gekleidet und frisiert, als wolle er sich krampfhaft von dem Knaben ihm gegenüber abheben. Auch er grinst. Aber unecht. Und er lauscht dem Klingeln, als hinge sein Leben davon ab. Auch das ist grotesk, denn der, dessen Leben wirklich davon abhängt, lächelt einfach zufrieden und zwinkert mir leise zu. Er hat bereits, was er wollte. Er ist noch hier.

Tuuuut.

Tuuuut.

Tuuuut.

Der Mann im Anzug wird unruhig. Hektisch schaut er hin und her. Irgendetwas muss passieren. Er blickt sich um und sieht einen weiteren Mann im Anzug, der ihm mit einer schnellen Geste klarmacht: Leg auf. Dafür fährt er sich mit der Hand wie mit einem Messer an der Kehle entlang. Schneid's ab, sagt er, entledige dich ihm. Und sein kühler, rationaler Blick sagt: Das wird heute nichts mehr.

Doch es ist nicht der richtige Abend für kühle Rationalität.

„Jetzt bist du ganz allein.“

In dem Moment, in dem der Mann im Anzug den Anruf beenden will, gibt es ein Klicken in der Leitung. Eine abgehetzte Frauenstimme meldet sich mit einem schnellen „Hallo?“, das durch den ganzen Saal hallt und in ihrer Stimme schwingt alle Liebe und alle Freude dieser Welt mit. Der Mann im Anzug erstarrt, der im schlechten Hemd schaut fassungslos auf, seine Augen weiten sich und er kann nicht glauben, was er da hört. Ein Raunen kommt von überall her und die Haare auf meinen Armen stellen sich auf, mein Atem stockt wie noch nie zuvor. Ich sitze stocksteif da und starre ihn an. Und er starrt an mir vorbei, denn in seinen Gedanken ist er längst nicht mehr in diesem dunklen Raum mit dem Raunen von allen Seiten.

Der Mann im Anzug gewinnt die Fassung zuerst wieder und kühl lächelnd stellt er fest: „Irgendwas sagt mir, dass das nicht dein Bruder ist.“ Der Raum lacht, während irgendwo der Bruder leise lächelt und der dürre Mann auf der anderen Seite des Tisches langsam beginnt zu begreifen, dass seine beschwerliche Reise nun endlich zu Ende ist. Denn plötzlich ist die piepsige, verschreckte Mädchenstimme wieder in seinem Ohr, wie sie ihm einmal vor vielen, vielen Jahren in einem anderen Leben sagte und heute wiederholt:

„Ich heiße Latika.“

Und von da an ist nichts mehr wichtig. Nichts gibt es mehr zu sagen, auch die Antwort auf die alles entscheidende Frage spielt keine Rolle mehr. Sie haben sich wieder gefunden. Und es hat ja nur ihr ganzes Leben gedauert. 


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