Die Klasse: Viele Jugendliche mit Migrationshintergrund

14.01.2009 - 12:03 Uhr
Die Klasse
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NEWS» Regisseur Laurent Cantet beantwortet Fragen zum Cannes-Gewinner Die Klasse.

Die Klasse unter der Regie von Laurent Cantet spricht ein aktuelles Problem in der westlichen Zivilisation an. Wie werden Jugendliche mit Migrationshintergrund in die jeweilige Gesellschaft integriert? Ohne den moralischen Zeigefinger zu erheben, erzählt der Regisseur, dass …

… niemand wirklich schuldig ist…
Es war allerdings nie die Frage, François Bégaudeau zum Super-Helden hoch zu stilisieren. Wenn man Risiken auf sich nimmt, kann etwas schief laufen, Missverständnisse entstehen. Wir haben daran gearbeitet.

Während der ersten Takes der Auseinandersetzung auf dem Schulhof beherrschte François Bégaudeau zu stark die Situation. Ich habe ihn gebeten, etwas den Faden zu verlieren und sich unsicher zu zeigen, weil er weiß, dass er einen Fehler begangen hat und auch, dass er allein auf sich gestellt ist. Bei einer Konfrontation sitzt der Lehrer nicht immer am längeren Hebel. Im Unterricht stellt er die Fragen, die oft ans Eingemachte gehen, aber die Schüler können auch ihre Fragen stellen und ihn damit in die Bredouille bringen. Ich denke da an die Szene, wo er sagt, die Unterscheidung zwischen Schriftsprache und gesprochener Sprache sei eine Sache der Intuition. Man sieht, dass ihm keine plausiblen Argumente mehr einfallen.

Das ist auch der Fall bei den Lehrern, wenn sie unter sich ihre Unterrichtstechniken besprechen. Oder wenn sie die Notwendigkeit eines Disziplinarausschusses für Souleymane diskutieren, steht am Anfang nur eine Lösung: Der Ausschluss von Souleymane. Aber dieser Forderung fehlt die Sicherheit. Im Gegenteil, niemand scheint dessen sicher zu sein, was er sagt: Man beginnt damit, irgendetwas zu behaupten, der nächste fügt eine Nuance im folgenden Satz an, und irgendwann ist das, was vorher gesagt wurde nicht mehr stimmig. Ich möchte in Echtzeit zeigen, wie eine Überlegung zustande kommt. Diese Szene manifestiert auch, wie zerstritten François Bégaudeau eigentlich mit den anderen Lehrern ist. Er ist Teil einer Gruppendiskussion, er ist nicht ge¬gen die anderen, er ist einer unter anderen.

Der Film versucht nicht, eine Seite anzuklagen oder zu entschuldigen. Alle haben ihre Schwächen und ihre Gefühlsausbrüche, ihre würdevollen und schwächlichen Momente. Jeder von ihnen hat Durchblick und ist gleichzeitig mit Blindheit geschlagen, ist mal verständnisvoll, mal ungerecht. Ich habe den Eindruck, der Film vermittelt eine positive Aussage: Schule ist manchmal etwas sehr Chaotisches, davor sollten wir nicht die Augen verschließen. Man durchlebt dort Momente der Entmutigung, aber auch große Momente der Würde und eines immensen Glücks. In diesem großen Chaos kann eine Menge Intelligenz geboren werden.

Der Gleichheitskontrakt zwischen Lehrer und Schülern ist im letzten Drittel des Films gebrochen, durch den Verlauf der Angelegenheit um den Disziplinarrat mit seiner Implikation von Hierarchie und Autorität. Aber er ist nicht aufgekündigt. Der ganze Film zeigt eine funktionierende Utopie. Nicht von einer theoretischen Warte aus oder aus einer simplen Bestätigung dessen, was Schule sein sollte, sondern von einem Experiment, was sie sein kann. Und dann kommt ein Moment, in dem die Utopie gegen eine sehr viel größere Maschine stößt, gegen etwas, dass an das erinnert, was sich außerhalb der Schule abspielt. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass etwas in diesem Schuljahr passiert ist.

Copyright: Mit Material von Concorde / Das Interview führte Philippe Mangeot

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