Glamourcity und das soziale Gewissen

16.05.2011 - 14:56 UhrVor 13 Jahren aktualisiert
Premierenpublikum
JB
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Moviepilot Redakteur Johann Buchholz lernt, dass es zwei Arten von Festivalbesuchern in Cannes gibt. Die einen wollen harte Sozialdramen sehen und die anderen wollen eigentlich nur über den roten Teppich laufen.

Wenn sich eine bald zwei Meter große Russin mit einem kleinen französischen Kartenabreisser auf Englisch streitet, dann muss der darauf folgende Film schon eine Menge bieten, um das zu übertreffen.

„I want to walk on red carpet.”
Dagegen hat der Herr vom Filmfestival auch nichts. Die junge Dame solle nur warten bis die Filmcrew an den Fotografen vorbei sei, dann könnte auch sie über den roten Teppich laufen.

Aber es scheint, dass das mit schwerem französischen Akzent gesprochene Englisch mit dem russischen Englisch absolut nicht kompatibel sei.
Die blonde Dame im kurzen schwarzen Glitzerkleid schimpft weiter, während ihre ähnlich beeindruckend große Freundin den kleinen Herren mit Schnauzbart beleidigt anguckt.

Der Franzose hat sich jetzt genug Mühe mit der Fremdsprache gegeben, er spricht fortan nur noch in seiner Muttersprache. Und siehe da, die Schimpfende beruhigt sich, die Schmollende entspannt sich.
Tief in den Ursprüngen der französischen Sprache muss etwas eingebaut sein, das besonders gut auf Frauen wirkt. Habe ich mir schon immer gedacht.

Das Absurde an der Situation: Heute Abend wird kein Hollywood Film mit großen amerikanischen Stars gezeigt, heute hat „Le gamin au vélo“ („Das Kind mit dem Fahrrad“) Premiere. Diese Russinnen mit ihren von Swarovski Steinen übersäten goldenen Handtaschen passen so gar nicht zu einem Film der Gebrüder Dardenne.

Jean-Pierre und Luc Dardenne machen triste Sozialdramen, die in belgischen Kleinstädten spielen. Für ihre Filme haben sie schon zweimal die Goldene Palme gewonnen (1999 und 2005). Damit gehören sie zu einem exklusiven Club. Ausser ihnen sind Mitglieder:

- Francis Ford Coppola (1974 und 1979)
- Shōhei Imamura (1983 und 1997)
- Emir Kusturica (1985 und 1995)
- Alf Sjöberg (1946 und 19519
- Bille August (1988 und 1992).

Außerdem sind sie Mitglieder im Club der „Brüder, die erfolgreich gemeinsam Filme machen“.

Andere Mitglieder:

- Ethan und Joel Coen
- Andy und Larry Wachowski
- Bobby und Peter Farrely
- Albert und Allen Hughes

Sollten die Dardenne Brüder dieses Jahr gewinnen, so wären sie die ersten, die in der Geschichte des Festivals den Hattrick schaffen.

Im Saal sitzen die beiden Russinnen eine Reihe vor mir und telefonieren. Ich verstehe kein Russisch, kann mir den Inhalt der Telefonate aber dank einiger immer wieder auftauchender Ausdrücke vorstellen. „…Jude Law…Cannes Festival…Brad Pitt… ».

Im Film geht es um einen 11-jährigen Jungen, der sich nicht damit abfinden will, dass sein Vater ihn verstoßen hat. Und obwohl es der meines Wissens erste Dardenne Film mit einer Art Happy End ist, zieht der Film einen ganz schön runter.

Das macht meinen beiden Freundinnen aus Moskau aber nichts aus. Als der Film beginnt, fangen sie an SMS zu schreiben und als sie damit nach 15 Minuten fertig sind, verlassen sie einfach die Filmvorführung.

Morgen lesen wir dann wieder in der Presse: “Hartes Sozialdrama der Dardenne Brüder, viele Zuschauer verliessen den Saal.”

Während ich da sitze, mit meiner Fliege und den albernen Lackschuhen, und dem 11-jährigen Jungen in seinem Kinderheim zugucke, da kann ich nicht anders als den beiden Damen Recht zu geben: Es passt einfach nicht zusammen – der rote Teppich, die Gucci Taschen, die Manschettenknöpfe und das Sozialdrama in einer belgischen Industriestadt.

Ich lehne mich auf gegen dieses verlogene System! Mit mir nicht, meine Herren!
Im Schutz der Dunkelheit ziehe ich meine Fliege aus, streife die Lackschuhe von den Füssen und beginne meinen stillen Protest.

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