Nach langem auf einen ehemals liebgewonnenen Menschen zu treffen, birgt gleichermaßen eine Chance wie ein Risiko in sich: Manchmal knüpfen wir mir nichts dir nichts an alte Tage an und denken danach umso lieber an Vergangenes zurück. Manchmal aber müssen wir uns eingestehen, dass es einen Grund gab, weshalb wir uns aus den Augen verloren haben. Unter Umständen haben Erinnerungen, von denen wir noch heute zehren, anschließend einen schalen Beigeschmack.
Entsprechend aufgeregt war ich, als ich meine frühere Freundin April Ryan wiedersah, um sie wieder auf ihrer längsten Reise zu begleiten.
Weltenbummler
Zum ersten Mal begegnete ich ihr vor knapp zehn Jahren. Damals drohte das Ausleben ihrer künstlerischen Ader die achtzehnjährige Studentin finanziell ausbluten zu lassen. Als wäre dies allein keine ausreichend schwere Last auf den Schultern einer Heranwachsenden plagten sie Albträume von Fabelwesen und einem bevorstehenden Unheil.
Doch trotz all dieser Stolpersteine versuchte sie, ihren Weg zu finden. Bis zu dem Punkt, an dem ihr eröffnet wird, dass ihre Träume mehr als Träume sind. Schließlich existiert in The Longest Journey nicht nur Stark, eine zukünftige, hochtechnologische Variante unserer Erde, sondern dessen Gegenentwurf Arcadia, so magisch wie mittelalterlich.
Während Stark den Prinzipien der Wissenschaft und Ordnung unterliegt, verkörpert Arcadia das Irrationale und Chaotische. Gemäß der Volksweisheit der sich anziehenden Gegensätze müsste die eine Welt das passende Gegengewicht zur anderen darstellen, jedoch droht eine Verschwörung, diese Balance ins Wanken zu bringen. Nun soll April, die gerade noch damit beschäftigt war, ihre ganz persönliche Welt zu ordnen, die Dinge richten, da sie die Fähigkeit besitzt, zwischen den Sphären zu wandeln.
Ausgleichendes Unheil
Zwar trägt Stark dezent dystopische Züge, welche das Profil der Fortsetzungen prägen, dennoch ergießt sich The Longest Journey nicht in profaner Schwarz-Weiß-Malerei. Zu Aprils Heimat gehören Kunstgalerien und Parks ebenso wie heruntergekommene Wohnblocks, die mit dem grauen Himmel verschwimmen.
Auch in der vermeintlichen Märchenwelt stößt sie nicht nur auf schrullig sympathische Wesen wie ihren zukünftigen Gefährten Krähe oder den Ewok-ähnlichen Ben Bandu. Sondern unter anderem auf den Gribbler, dessen Zutaten direkt aus der Hexenküche der Gebrüder Grimm stammen könnten. Ragnar Tornquist, der Schöpfer der Reihe, erklärt den Kern des Szenarios im Interview mit Rock Paper Shotgun wie folgt:
Ich erkannte, dass es im Spiel nicht um eine schreckliche und wundervolle Welt ging – Ich erkannte, es ging eher um die Balance zwischen diesen verschiedenen Elementen dieses Universums. Du würdest nicht eine dieser Seiten zu einem schrecklichen Ort machen. Du würdest ihn einfach anders machen. Und wenn du einen Einblick in Aprils Leben bekommst und es genießen willst, was entscheidend für das Verständnis ist, wenn ihr Leben auf den Kopf gestellt wird, muss sie ein Leben haben, das ansprechend ist.
Heldin wider Willen
Anders als in klassischen Heldengeschichte, denen oftmals etwas eskapistisches anhaftet, nimmt April ihre Bürde nicht vom ersten Moment auf sich, sondern hadert. Schließlich hat sie trotz aller Probleme Gefallen an ihrem Leben in ihrer Wahlheimat, der Metropole Newport, gefunden. Zumal sie, wie ihre Tagebucheinträge belegen, ein weitaus schlimmeres Leben hinter sich ließ. Diese emotionale Fallhöhe macht ihre Person für mich stets greifbar, da ihr ein Kern innewohnt, mit dem ich mich noch heute teils identifiziere. Verhält es sich mit Abenteuern nicht so, dass wir uns stets nach ihnen sehnen, bis sie an unsere Tür klopfen, um uns aus unserem Schneckenhaus zu zerren?
Ihre oftmals kecke, sarkastische Art bot meinem jugendlichen, wechsellaunigen Ich zudem eine hervorragende Projektionsfläche. Selbst heute wirken ihre Bemerkungen kein bisschen aus der Zeit gefallen und bringen mich ein ums andere Mal zum Schmunzeln. So kommentiert sie einen Aushang an schwarzen Brett ihrer Universität mit den lakonischen Worten:
`Aktmodell für seriöse Arbeit gesucht. PS: Nur junge, hübsche...` Hier hat er `Miezen` durchgestrichen und durch `Frauen` ersetzt. Aalglatt, der Mann.
McGyver Ryan
Allerdings muss ich einräumen, dass ich etwas brauchte, um mich wieder auf Aprils Reise einzulassen, denn in einer der Kerndisziplinen eines Point & Click-Adventures, dem Puzzledesign, spricht The Longest Journey allzu oft in Rätseln zu mir.
Kostprobe gefällig? Im zweiten Kapitel besteht mein Ziel darin, einen Bekannten zu finden. Das Kino, in dem ich ihn vermute, ist indes geschlossen, der Mitarbeiter möchte mich nicht herein lassen. Natürlich verschaffe ich mir Zutritt, indem ich die Leuchtreklame des Lichtspielhauses manipuliere und dadurch Verwirrung stifte.
Leichter gesagt, als getan. Immerhin muss ich dafür eine Auftragskette verfolgen, die in ihren einzelnen Gliedern ähnlich verworren ist wie ein Paar Handykopfhörer, das über Tage in der Innentasche meiner Jacke lag. Einen Schlüssel fische ich beispielsweise auf dem Gleisbett, indem ich mir aus einer Gummiente, einer Wäscheleine sowie einer Zange eine Angel bastle – MacGyver wäre stolz!
In diesen Momente spüre ich, wie sehr sich mein Spielegeschmack in den Jahren gewandelt hat. Ginge es nicht um April, hätte ich an solchen Stellen wohl aufgegeben. Wobei das, so denke ich mir, nichts schlechtes bedeuten muss. Zumindest weiß ich so umso mehr zu schätzen, was ich mit diesem Spiel immer noch verbinde.