Wir schreiben das Jahr 1920. Die Prohibition, Amerikas strenges Alkoholverbot wird ausgerufen. Während viele Städte trocken liegen, beginnt Atlantic Citys goldenes Zeitalter und mit ihm das des Schatzmeisters Enoch ‘Nucky’ Thompsons. Für ihn wird Atlantic City zum Spielball, zu einem Ort, der dank des Alkoholschmuggels, der Prostitution und des Glücksspiels lächelnde Zahlen auf sein Konto zaubert. Nucky ist die graue Eminenz. Derjenige, der die Macht über die Stadt inne hat. Und derjenige, den man verachtet.
Ich erzähle euch also von Boardwalk Empire, einem HBO-Sprössling, der wie seine Figuren, noch irgendwo im Schatten verweilt. Wieder so eine Die Sopranos -Serie? Gangster sind doch schon lange ausgelutscht! Was soll man zu dem Genre denn überhaupt noch beitragen? Nach langem Überlegen steht mein Entschluss so sicher wie Mitt Romneys Kampagnen-Lächeln: Ich präsentiere euch einen Serienschatz, den viele noch nicht kennen und erkläre euch, wieso sich Boardwalk Empire neben den Sopranos, Six Feet Under – Gestorben wird immer und Breaking Bad nicht zu verstecken hat. HBO did it again!
Da startet 2010 also der Pilot mit einem Budget von 18 Millionen $ und unter der Regie von Altmeister Martin Scorsese persönlich. Ich sehe zu und bestaune die exorbitanten Kulissen, die akkuraten Kostüme und weiß, dass da wieder etwas ganz Großes auf mich zurast. Die Art wie HBO es immer wieder schafft eine Atmosphäre aufzubauen und neuen Welten Leben einzuhauchen ist in allen Maßen imposant, bewundernswert und spektakulär.
Doch weiß ich vorerst eigentlich gar nicht so genau, was ich nun davon halten soll. Ja, das ist schon alles gut, aber wieso ist der Protagonist so verachtenswert? Erlaubt mir den kurzen Sopranos-Vergleich, der nun folgt, denn ich finde ihn in dem Sinne wichtig, dass man daran sehen kann, weshalb Boardwalk Empire so losgelöst ist. Während Tony Soprano zwar ebenfalls sämtliche Grauzonen durchwanderte, war er uns doch auf sechs Staffeln verteilt, dennoch sympathisch. Wir genossen seine Anfälle und auch die Morde, die er beging, hatten ihren Reiz. Bei Nucky Thompson verhält sich das anders. Er ist Prota- und Antagonist zugleich, wenn man so will und Boardwalk Empire weiß deswegen genau, dass sie weitere Figuren an seine Seite schicken muss. So gibt es im eigentlichen Sinne statt einem gleich vier handelnde Hauptfiguren, deren Existenz für Boardwalk Empire außerordentlich wichtig sind. Margaret Schroeder, eine irische Witwe, die mit Nucky anbandelt. Die manisch unberechenbare Figur des Agent Nelson van Alden, welcher ein weiterer Gefahrenherd für Nucky ist und last but not least der junge James ‘Jimmy’ Darmody, der Princeton verließ um in den Krieg zu ziehen und nun als Veteran unverhofft in seine Stadt zurückkehrt.
Auffällig ist hierbei die Nähe der Figuren zu Nucky Thompson. Margaret wird im Verlaufe der Serie zu Nuckys Gemahlin und ist in dem Sinne ein wichtiger Pfeiler, dass sie sich traut Nucky Einhalt zu gebieten, was der Rolle der Frau zu jener Zeit entgegenwirkt. Jimmy hingegen betrachtete Nucky teils wie einen Vater und muss anfänglich als Handlanger die Drecksarbeit erledigen. Doch schon bald wird klar, dass Jimmy mehr will und dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis er sich erhebt. Wie Nucky es so schön ausdrückt:
‘The pups have grown fangs.’
Dieses Hauptkonstrukt bildet aber erst durch die detaillierten Nebenfiguren und die gewagten Thematiken eine explosive Mischung. Al Capone ist einer von Jimmy Darmodys Freunden, der bisher nicht mehr als eine schlummernde Bedrohung darstellt. Der halb entstellte Veteran Richard Harrow, welcher eine Gesichtsmaske tragen muss und zu Jimmys Partner und bestem Freund wird, hat ähnlich wie Jimmy mit Depressionen und einer steigenden Existenzangst zu kämpfen. Und Chalky White, ein afroamerikanischer Schmuggler, der im Geschäft mit Nucky steht, wird vom berüchtigten Ku Klux Klan belagert.
Sei es nun der Alkoholschmuggel selbst, die familiären und beruflichen Vernetzungen und Gefahren, der Rassismus, die Arbeiteraufstände oder religiöser Wahn, es mangelt Boardwalk Empire nicht an Thematiken. In gewissem Maße fühlt sich die Serie wie ein mittlerweile über 20-stündiger Gangster-Epos an, den Leute wie Sergio Leone oder Martin Scorsese bislang in Filmform nicht so umfangreich entwickeln konnten wie es nun in Serienform gelungen ist. Boardwalk Empire wird mit jeder weiteren Folge zu einem unberechenbaren Monstrum. Sie stellt in Sachen Blutvergießens neue Maßstäbe auf, ohne dass diese zum Selbstzweck verkommen. Zeigen tut sich dies vor allem an der tragischen Figur des Jimmy Darmody, welcher sich selbst als lebender Toter betrachtet. Er lebt die Tragödie des Ödipus und findet erst zum Ende hin seine Katharsis, seine Läuterung, ja seinen Frieden mit sich selbst und sein Trinkspruch ‘To the lost’ kann somit als Schwanengesang aufgefasst werden. Indes ist klar, dass Nucky so handeln muss, wie Jimmy es ihm im Piloten erklärte:
‘You can’t be half a gangster, Nucky. Not anymore!’
In jedem Belangen ist Boardwalk Empire also ein zunehmender Gigant. Eine Serie, die sich immer mehr entfaltet und einen immer mehr gefangen nimmt. Steve Buscemi wurde in Folge bereits zwei mal für den Emmy nominiert, den ihm momentan leider noch Herr Heisenberg wegschnappt. Für mich ist es aber gerade Michael Pitt, welcher bewies, dass er einer dieser unglaublich unterschätzen Akteure ist. Seine Darstellung des Jimmy Darmody treibt mir buchstäblich Tränen in die Augen, sodass ich es mir nicht habe nehmen lassen seine stilvolle 20er Jahre Frisur schneiden zu lassen.
So muss Boardwalk Empire bereits nach ihren zwei Staffeln in einem Atemzug mit den Riesen des Mediums genannt werden, da vor allem auch ihr unsagbarer Mut dafür sorgt, dass man nach all dem bereits Gesehenem noch überrascht werden kann und dass klar ist, dass hier nicht viele Methusalems Alter erreichen. Möge dieser Mut nicht Boardwalk Empires Sargnagel sein, sondern ein erneuter Drahtseilakt, um wie der Phönix aus der Asche zu erstehen.
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