Claire Denis beantwortet Fragen zu 35 Rum

05.03.2009 - 08:45 Uhr
35 Rum
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NEWS» Regisseurin Claire Denis erzählt im kleinen 35 Rum von den großen Themen.

Claire Denis hat lange gezögert, die Filmidee von 35 Rum zu verfilmen. Sie hatte Jahre lang das Gefühl, es gäbe niemanden, der diesen Mann verkörpern konnte.

Niemand außer Alex Descas …
Genau. Alex Descas hat alles, was diese Rolle braucht. Er spielt mit einer so unaufdringlichen, leisen und unvergänglichen Intensität, dass ich sofort wusste, er ist der Richtige. Denn die Tochter hat nicht nur grenzenloses Vertrauen in diesen Mann und weiß, wie zerbrechlich er ist, sie sieht zugleich die verführerische Seite in ihm. Ginge es hier nur um eine rechtschaffene und schwache Vaterfigur, wäre das schon nicht einfach, aber dieser Vater ist zudem auch noch charmant und bezaubernd.

Einmal mehr erschaffen Sie ein ganz neues Paris. Diesmal ist es ein Paris, in dem man niemals ankommt. In dem die Personen weit entfernt wohnen und es nicht schaffen, irgendwo anzukommen. Personen, die aufeinander warten, die versuchen, ein neues Leben zu beginnen. Ein Paris, das anhand seiner Wege erzählt wird. Wir befinden uns in seinen Eingeweiden, an seinen Extremitäten, in seinen Innenräumen, auf seiner Schwelle – aber niemals im Zentrum …
Im Gegensatz zur Metro fährt der RER niemals ins Zentrum. Es ist ein Verkehrsmittel, das die Menschen am Stadtrand abholt und in ihre Vororte zurückbringt. Sein Job ist es, zwei Welten miteinander zu verbinden, die kaum etwas von einander wissen. Die Metro ist ein Teil von Paris; wenn man die Metro nimmt, ist man in der Stadt. Indifferent und seelenlos klappert sie ihre Stationen ab. Der RER hingegen ist etwas Besonderes, denn er ist zutiefst mit dem Leben der Menschen verbunden. Die Fahrer wissen das und sind stolz darauf.

Der Alltag im Film wird durch zwei Ereignisse bedroht: eine Pensionierung und eine Hochzeit. Jedes Mal taucht das Motiv des leeren Rumglases auf, zusammen mit einer Legende. Was hat es mit dieser Geschichte der 35 Gläser Rum auf sich, die dem Film seinen Titel gibt, die jedoch nie erzählt wird?
Ich dachte dabei an die Legende eines karibischen Freibeuters, der gesagt haben soll, „an dem Tag, an dem du mir meine Tochter nimmst, werde ich mich besaufen. Zuerst meinte Jean-Pol, wir sollten die Geschichte mit ins Drehbuch reinnehmen, aber dann haben wir uns dagegen entschieden. Es ist besser, wenn sie niemand kennt.

Man hat das Gefühl, dass nur der Vater und die Tochter wirklich in der Gegenwart leben. Alle anderen Personen scheinen in der Vergangenheit gefangen zu sein: Noé, seine alte Katze und die Wohnung, die er von seinen Eltern geerbt hat, Gabrielle und ihre verflossene Liebe, René, der seiner Arbeit nachtrauert. Sie alle richten ihren Blick auf Lionel und Joséphine, auf diese Tür, hinter der sich Tag für Tag das perfekte Leben abspielt…
In den Augen der Anderen ist das Egoistische an der Liebe, dass sie die Lebensfreude steigert, und zwar im Hier und Jetzt. Die Liebe, und damit meine ich nicht unbedingt die Liebe zwischen Mann und Frau, versüßt uns die Gegenwart. Und genau das will der Dampf aus dem Reiskocher sagen, wenn der Vater nachhause kommt. Er ist eines dieser kleinen Zeichen, die besagen, „hier und jetzt geht es dir gut“. Und ich glaube, dass zwei Menschen, die sich lieben, genau wissen, dass ihre Liebe wie ein Bollwerk zwischen ihnen und den anderen steht. Sie ziehen Kraft daraus und hüten sich, sie aufzugeben. Die Liebe zwischen zwei Menschen, ganz gleich worauf sie gründet, ist ein sehr festes Band.

Und es bedarf eines letzten Wegs, der bis nach Deutschland führt, um dieses Band zu zerschneiden…
Ich wollte, dass man in dem Film etwas mehr über die Mutter erfährt. Wir brauchten irgendeine Spur von ihr, die deutlicher war als nur ein Foto, um auf die Mischehe hinzudeuten. Ich stellte mir vor, dass sie aus einem europäischen Land kam, das ganz anders ist als Frankreich, eine andere Welt am Ende der Autobahn. Und da kam mir die Heidelandschaft an der Ostsee in den Sinn, zwischen Hamburg und Lübeck, ich war da früher mal. Damals habe ich Kinder gesehen, die an Sankt Martin mit ihren Laternen durch die dunklen Straßen zogen und sangen: “Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne”. Für Joséphines Vater ist dieses Land fremd, in seiner Heimat muss man keine Laternen anzünden, um die Sonne zu sehen. Seine Tochter verkörpert die Mischung aus beiden.

Mit Material von RealFiction

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