Die Autisten in der Zirkuskuppel: ratlos

19.08.2008 - 06:29 Uhr
Das alte Medium?
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Frank Noack wundert sich über die Neue Wehleidigkeit in der Filmpublizistik.

Es gibt Filmjournalisten, die am, wenn nicht sogar unter dem Existenzminimum leben. Sie kommen nie mit, wenn man nach dem Kinobesuch in eine Kneipe gehen möchte – weil sie sich kein Bier leisten können, nicht einmal ein Glas Wasser. Sie quälen sich mit einem veralteten Computer herum und gelangen nicht auf jede Website. Sie können nicht einmal ihre eigenen Texte ausdrucken, da ihnen das Geld für eine neue Druckerpatrone fehlt. Diese tapferen Frauen und Männer hätten einen Grund, mit larmoyanten Aufsätzen an die Öffentlichkeit zu treten, aber sie tun es nicht. Vielleicht, weil sie einen Rest von Würde besitzen, und weil sie sich freiwillig für dieses Leben entschieden haben.

Auch für die Normal- und Gutverdiener unter den Filmjournalisten gibt es Anlässe, sich zu ärgern: verweigerte Ausfallhonorare, unkooperative Interviewpartner oder demütigende Einlasskontrollen bei Pressevorführungen. Doch es dominiert ein ganz anderes Motiv, wenn Filmjournalisten ihren Opferstatus hervorkehren: unbefriedigte Eitelkeit. Es fällt schwer, für dieses Privilegierten-Gejammere Verständnis aufzubringen, denn wer austeilt, der sollte auch einstecken können. Kritiker, die keine Kritik vertragen, machen sich lächerlich. Merkwürdig, dass es fast ausschließlich Männer sind, die in weinerlichem Ton ihre Autorität einklagen und eine gute alte Zeit beschwören, in der sie höher geachtet wurden.

Im Januar 2007 wagte es der Produzent Günter Rohrbach, seinen Unmut über die deutsche Filmkritik zu formulieren (Der Spiegel Nr. 4 / 22.1.2007). Darin sah Josef Schnelle die “Forderung nach der ersatzlosen Abschaffung der Filmkritik” (www.vdfk.de). Einen derartig schweren Vorwurf – wer denkt dabei nicht an Joseph Goebbels’ Verbot der Filmkritik im Jahr 1936 – sollte man wenigstens mit einem wörtlichen Zitat belegen, aber da Rohrbach nie die Abschaffung der Filmkritik gefordert hat, und eine ersatzlose schon gar nicht, gab es in Schnelles Text auch kein entsprechendes Zitat. Eine weitere unwahre Behauptung machte bald die Runde: Rohrbach habe unter allen Filmkritikern Entsetzen ausgelöst. Das hat er keineswegs. In der letzten Januarwoche war ich ständig auf Pressevorführungen und habe dort die üblichen fröhlichen Gesichter gesehen. Selbst die Kollegen, die Rohrbachs Text ablehnten, wirkten eher amüsiert als traumatisiert.

Wie souverän ein Kritiker auf Kritik reagieren kann, hat Hellmuth Karasek bewiesen. 1992 war er von Ute Lemper in dem Musical “Der blaue Engel” wenig angetan und fand sie unter anderem zu dünn. Ute Lemper schlug mit Unterstützung der B.Z. öffentlich zurück und gab Karasek den Rat, sich eine molligere Frau aus dem nächsten Puff zu holen. Er hätte sich feige vor ihr verstecken können, stattdessen wagte er vor Millionen Fernsehzuschauern die Konfrontation, und am Ende hatten beide gewonnen. Man respektierte Lemper und Karasek, obwohl sie nicht von ihren jeweiligen Positionen abgerückt waren. Man respektierte sie einfach wegen ihrer Dialogbereitschaft. Rohrbachs Gegner scheinen solch einen Schritt zu fürchten, vielleicht weil sie keine Widerrede gewohnt sind.

Verkörperte Rohrbach die Gefahr von oben – der imaginierte Medienzar, der die Kulturberichterstattung zu seinen Gunsten steuert – , so droht mit den Bloggern eine Gefahr von unten. Jedenfalls aus der Sicht von Josef Schnelle (Berliner Zeitung, 14.8.2008), der sich erneut als Sprachrohr der Unzufriedenen betätigt, obwohl er das gar nicht nötig hat. Die Blogger seien Amateure, die den Profis ins Handwerk pfuschen. Dabei ist Bloggen nur eine Form von Gegenöffentlichkeit. Wer als vorgeblich kritischer Geist diese Gegenöffentlichkeit ablehnt, entlarvt sich damit als autoritärer Antiautoritärer, wie jene Pseudolinken, die 1968 Machtverhältnisse nicht abschaffen, sondern nur zu ihren eigenen Gunsten verändern wollten.

Warum ist diese Angst, überflüssig zu werden, ausgerechnet bei ein paar Filmkritikern so stark ausgeprägt? (Und es sind wirklich nur ein paar, die allerdings ihre geringe Zahl durch Lautstärke wettmachen.) Statt mit dem Finger auf äußere Feinde zu zeigen, sollten sie lieber Selbstkritik und Demut üben und die Grenzen der eigenen Möglichkeiten akzeptieren. Einen Kritikerpapst wie Alfred Kerr, Herbert Jhering oder Marcel Reich-Ranicki hat es im Bereich der deutschen Filmpublizistik nie gegeben, weil die Internationalität des Mediums solch eine Monopolstellung verhindert. Deutsche Literatur- und Theatergeschichte wird weiterhin in Deutschland geschrieben; die interessantesten Neuerscheinungen zur deutschen Filmgeschichte gibt es überwiegend auf Englisch. Von deutschen Autoren verfasst, aber an eine internationale, der englischen Sprache mächtigen Leserschaft gerichtet.

So wie es für Musikliebhaber selbstverständlich ist, MTV statt den Musikantenstadl einzuschalten, ist auch für den Filmliebhaber die Lektüre von Sight & Sound, Film Comment, Cahiers du cinéma oder Positif unverzichtbar. Neue Kritikerpäpste haben selbst diese Publikationen nicht hervorgebracht; der Typus scheint am Aussterben zu sein. Selbstherrlichkeit ist nicht mehr zeitgemäß, und Wehleidigkeit ist nur eine Form der Selbstherrlichkeit, eine Stilisierung zum verkannten Genie. Wer den Mut hat, diese Rolle auszuprobieren – alle Achtung! Aber bitte nicht jammern, wenn das Genie unerkannt bleibt.

Frank Noack (Freier Journalist, u.a. beim Tagesspiegel)
Berlin, den 19. August 2008

Die anderen Texte zur Diskussion gibt es hier:
von Oliver: Blogger zerstören die Filmkritik!
von Ines: Brauchen wir eine Online- und Blog-Filmkritik?
von Ulrich Gellermann: Nehmt dem Jupp die Schreibmaschine ab
von Josef Schnelle: Artikel in der Berliner Zeitung

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