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Die französische Patientin

11.11.2017 - 09:00 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
Der englische Patient
Arthaus
Der englische Patient
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Dieser Artikel ist ein Community-Beitrag, der im Rahmen unseres Schreibwettbewerbs Mein liebster Kinomoment entstanden ist.

Ich stamme aus den französischen Ardennen, einer von den wiederholten Kriegen gegen die Deutschen geprägten Gegend Nordfrankreichs. Ich lebe schon lange mit meinem deutschen Partner im schönen Süden Deutschlands. Die Anpassung an eine fremde Kultur war am Anfang mit unzähligen Gefühlswallungen verbunden. Ein Film "Der englische Patient" vom Regisseur Anthony Minghella aus dem Jahr 1996, der im kleinen Augsburger Kino Liliom ausgestrahlt wurde, brachte mich auf den Boden der Realität zurück und zeigte mir wie belanglos meine Schwierigkeiten eigentlich waren.

Von dem täglichen Kampf um die Durchsetzung meiner tiefsten Überzeugungen erschöpft reichte oft ein ungeschickter Satz von meinem deutschen Freund, um mich auf die Palme zu bringen. "Wie geht es heute meiner kleinen süßen ***** aus Paris?" Die liebgemeinten Worte lösten bei mir die Explosion des Feuerwerks am 14. Juli auf dem Trocadéro aus: "Ich bin nicht aus Paris, ich bin nicht süß, ich bin nicht klein, sondern angemessen, und vor allem gehöre ich niemandem!" Mein Freund verstand offensichtlich den Zusammenhang nicht. Meine Wut, die sich von unausgesprochenen Frustrationen nährte, nahm im Nu gewaltige Proportionen an. Wie vom Schlag getroffen ertrank er unter der Flut meiner Vorwürfe. Die Heftigkeit meiner Logik verbat ihm die Erstellung eines Schutzwalls: "Was mache ich hier in einem Land, in dem ich als eine leere Geschenkverpackung betrachtet werde! Ich kann diese Floskeln nicht mehr hören - Oh, Sie Kommen aus Frankreich! Dieser Akzent, wie charmant! - Ich habe Angst, wenn ich nicht aufpasse, irgendwann wache ich an deiner Seite auf und ich bin eine andere!" Er blieb stumm. Ich packte meinen kleinen Koffer mit dem Eiffelturm darauf und kündigte ihm meine Rückkehr nach Frankreich an. Er schaute gelähmt der Szene zu und überlegte sicherlich, in welchem Film er sich befand. Ich schlug die Wohnungstür heftig zu und stieg in mein Auto. Was nun? Ich wollte auf keinen Fall vom Regen in die Traufe, also in die Ardennen fahren. Der Wagen übernahm die Führung und kam vor dem ehemaligen Pumpenhaus des Wasserturms aus dem 16. Jahrhundert, das als Kino in der Augsburger Altstadt genutzt wird, an. Es lief "Der englische Patient", ein Film, den ich unbedingt sehen wollte. Ich trat in das Eingangsfoyer, wo man noch durch einen Glasboden den darunter hindurchfließenden Stadtbach sehen kann. Der Ort war ideal, um meinen Kummer zu ertränken. Nach dem Film würde mir hoffentlich eine Lösung zu der momentan aussichtslosen Situation einfallen. Es war die letzte Vorstellung, und ich die einzige Zuschauerin. Der lässige junge Mann an der Kasse hatte sichtlich keine Lust für eine Person den Film laufen zu lassen, bis wie ein Wunder ein zweiter Interessent sich meldete. Ich war für wenigstens drei Stunden gerettet! Ich versank in den Sessel meiner wütenden Traurigkeit und spulte in meinem Kopf den Film meines erbärmlichen Lebens ab. Die Bilder von der ägyptischen Wüste mit Katharine und László in der Höhle der Schwimmer füllten den kleinen Raum. Der Anblick auf der Leinwand des im Zweiten Weltkriegs am ganzen Körper verbrannten Patienten zog mich wie eine Leiche aus dem Wasser an die Oberfläche meines Selbstmitleids und rüttelte in mir ein tiefes Gefühl der Scham. Die Bilder des Filmes erinnerten mich an meine Großväter im Krieg. Ich hörte die unmenschlichen Schreie der zerfleischten Soldaten, Deutschen und Franzosen, auf dem Schlachtfeld, ich sah die Würmer in dem explodierten Knie des wehrlosen Körpers meines Großvaters in dem Schützengraben von Verdun, ich roch den Gestank seiner durch das Senfgas nekrotischen Fettleber. Meine Großväter hatten all das überstanden und ich wollte vor einem lächerlichen Hindernis fliehen! In der Pause ließ ich den zweiten Zuschauer allein und fuhr nach Hause. Ich gab meinem Freund einen Kuss und sagte nur "La vie est belle avec toi".

***

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