"Kill the Jockey" ist ein Film, der sich schwer in Worte fassen lässt, weil er weniger einer klassischen Dramaturgie folgt, als vielmehr einem Erlebnis gleicht, das sich visuell, atmosphärisch und erzählerisch Stück für Stück entfaltet. Luis Ortega, der in der Vergangenheit bereits bewiesen hat, dass er mit Konventionen nur wenig anfangen kann, liefert hier ein Werk, das zwischen Autorenkino, satirischer Komödie und Charakterstudie schwankt - und dabei ein erstaunlich stimmiges Ganzes ergibt. Schon der Trailer ließ erahnen, dass hier kein gewöhnlicher Jockey-Film auf das Publikum wartet, sondern ein eigenwilliges, fast schon skurriles Werk, das sich stilistisch und atmosphärisch in der Nähe von Wes Anderson bewegt, ohne sich dabei je wie eine Kopie anzufühlen. Ortega hat eine eigene Handschrift, die sich aus dem Unberechenbaren, dem Bruch mit Erwartungen und dem Mut zum Risiko widerspiegelt.
Im Zentrum der Geschichte steht Remo, gespielt von Nahuel Pérez Biscayart, der einst zu den großen Talenten im argentinischen Pferderennsport gehörte. Doch seine besten Tage liegen hinter ihm. Alkohol und Drogen bestimmen sein Leben, und schon in den ersten Minuten des Films wird deutlich, dass Remo zwar noch am Start steht, aber längst nicht mehr der Jockey ist, den sich sein Umfeld wünscht. Schon vor einem Rennen sieht man ihn trinken, später sogar, wie er Pferde-Aufputschmittel konsumiert. Diese Mischung aus Selbstzerstörung und Überlebenskampf ist bitter, zugleich aber mit einem schwarzen Humor inszeniert, der sofort zeigt: "Kill the Jockey" ist kein klassisches Sportdrama. Die Kameraarbeit ist dabei von Anfang an beeindruckend. Ortega und sein Kamerateam setzen auf Nähe, auf kunstvolle Bildkompositionen, auf ungewöhnliche Blickwinkel und auch auf Effekte, die das Geschehen lebendig und verspielt wirken lassen. Es entsteht ein visueller Sog, der gerade in den ersten 25 Minuten nahezu perfekt mit dem Tonfall des Films harmoniert.
Eine der ikonischsten Szenen gleich zu Beginn ist eine Tanzsequenz, in der Remo in einer Art surrealem Rauschzustand gezeigt wird. Outfits, Choreografie und Musik sind dabei so fein aufeinander abgestimmt, dass dieser Moment sofort im Gedächtnis bleibt. Der Film arbeitet generell stark mit Musik: Der Soundtrack, durchdrungen von argentinischen Klängen, fügt sich nicht nur atmosphärisch gut ein, sondern unterstreicht den Rhythmus der Szenen. Tanzszenen tauchen immer wieder auf, und obwohl sie auf dem Papier wie Fremdkörper wirken könnten, fügen sie sich erstaunlich organisch in die Erzählung ein. Sie schaffen kurze Momente der Leichtigkeit, die den abgedrehten Vibe des Films unterstreichen und selbst ernsten Themen eine spielerische Note verleihen.
Remo lebt mit seiner Partnerin Abril (Úrsula Corberó), die selbst Jockey ist und ihm zunehmend den Rang abläuft. Während er abstürzt, steigt sie auf. Abril ist schwanger, und schon früh wird klar, dass ihre Karriere an einem Scheideweg steht. Beide arbeiten für Sirena (Daniel Giménez Cach), einen zwielichtigen Kriminellen, der über die Pferde verfügt und Remo einst das Leben rettete. Allein durch diese Schuld steht Remo in seiner Abhängigkeit zu Sirena. Diese Konstellation wirkt wie ein klassisches Gangsterdrama, wird hier aber mit einem Tonfall erzählt, der zwischen bitterem Ernst und fast absurder Komik schwankt. Ortega schafft es, die Figuren ernsthaft anzulegen und sie trotzdem in Situationen zu platzieren, die überhöht, skurril und manchmal fast slapstickartig wirken. Es ist genau dieser Balanceakt, der "Kill the Jockey" so besonders macht.
Nach einem besonders chaotischen Rennen, bei dem Remo betrunken auf einem Pferd sitzt, stürzt er schwer. Das Pferd stirbt, Remo selbst landet mit Hirnschäden im Krankenhaus. Schon diese Szene verdeutlicht die zerstörerische Spirale, in der er sich bewegt. Statt eine typische Genesungsgeschichte zu erzählen, schlägt der Film jedoch einen anderen Weg ein: Remo flieht in gestohlenen Frauenkleidern aus dem Krankenhaus, irrt durch Buenos Aires, wird angefeindet, verfolgt und muss sich gleichzeitig mit seiner eigenen Identität auseinandersetzen. Dass Ortega dabei auf ein Setdesign setzt, das bis ins Detail durchdacht ist, macht den Film zu einem visuellen Erlebnis. Jede Straße, jedes Zimmer, jede Szene wird sorgfältig komponiert, ohne steril oder kalkuliert zu sein.
Sirena schickt bald seine Handlanger los, um Remo wieder einzufangen. Von da an verwandelt sich der Film in eine Mischung aus Fluchtgeschichte, Identitätssuche und absurdestem Abenteuer. Doch was so leichtfüßig begann, verändert im Laufe des Films seinen Ton. Der Humor tritt zurück, Dialoge nehmen mehr Raum ein, die Handlung wird ernster. Für manche Zuschauer mag das die nötige Tiefe bringen, für andere könnte es wie ein Bruch wirken. Denn gerade die erste Hälfte überzeugt mit einem eigenwilligen, humorvollen Rhythmus, der fast schon ikonisch ist. Wenn Ortega dann stärker auf Identitätsthemen eingeht, dann ist das konsequent in der Geschichte angelegt, aber vielleicht zu abrupt in der Umsetzung. Der Identitätswechsel ist interessant, mutig und überraschend, aber er hätte mehr Raum gebraucht, um sich organisch zu entwickeln. Während die erste Hälfte mit Humor, Rhythmus und visueller Brillanz glänzt, fühlt sich die zweite Hälfte eher wie ein Experiment an, das nicht ganz bis zum Ende durchdacht ist.
"Kill the Jockey" ist nicht perfekt, aber genau das macht ihn so spannend. Es ist ein Film, der überrascht, irritiert, begeistert und manchmal auch verwirrt. Aber er bleibt durchgängig interessant. Er fordert sein Publikum, verlässt sich nicht auf einfache Erklärungen, sondern konfrontiert mit Brüchen und Tonwechseln. Dass er dabei gleichzeitig unterhaltsam, komisch und hochgradig ästhetisch inszeniert ist, macht ihn zu einem Erlebnis, das man so schnell nicht vergisst.
Am Ende bleibt das Gefühl, einen Film gesehen zu haben, der nicht auf Nummer sicher geht, sondern etwas wagt. Und genau das ist es, was Kino immer wieder spannend macht. "Kill the Jockey" ist ein Werk, das polarisiert, das Diskussionen auslösen wird, das nicht jedem gefallen muss - aber wer sich darauf einlässt, wird mit einer einzigartigen Erfahrung belohnt. Für mich ist es gerade dieser Mut, der den Film zu einem Highlight macht.
Kurzfazit: "Kill the Jockey" ist abgedreht, mutig, visuell brillant und erzählerisch ungewöhnlich. Ein Film, der Spaß macht, überrascht, irritiert und begeistert. Auch wenn nicht jeder Tonwechsel perfekt gelingt, bleibt es ein außergewöhnliches Kinoerlebnis, das lange nachhallt.
"Kill the Jockey" startet ab dem 18. September 2025 in den deutschen Kinos