London 1893. Cora Seaborne, gerade zur Witwe im mittleren Alter geworden, hat die langjährige Ehe in Treue zu ihrem Gatten gestanden, ohne je ein Missfallen zum Ausdruck gebracht zu haben, weder allein noch in Gesellschaft, obwohl er sie seelisch und körperlich misshandelte.
Die Seabornes gehören nicht etwa dem Proletariat an, sondern entstammen der Londoner Oberschicht, wo man in Kreisen von Akademikern, Geldadel und Regierungsbeamten zu verkehren pflegte. Mit einer reichen Erbschaft und der größtmöglichen Freiheit ausgestattet, die einer Frau in der viktorianischen Epoche zuteilwerden konnte, nämlich von der Ehe und einem Ehemann ungebunden das tun zu dürfen, was ihr als Frau beliebt, fühlt die elaborierte Witwe sich nicht lange betrübt und streift die Fesseln der Ehe ab.
Der junge Luke Garrett, aufstrebender Leibarzt ihres verstorbenen Gatten und Chirurg, wittert nun seine Chance am Ufer ihres Herzens anlanden zu können. So gibt er sich als freundschaftlicher Begleiter und befleißigt sich der Konversation. Cora Seaborne ist sowohl sehr beredsam als auch emanzipiert aber offensichtlich ist dem jungen Herrn noch nicht aufgefallen, dass die Dame eine Konversation anstrebt, welche auf freundschaftlicher und kollegialer Basis stattfinden soll.
Als ihre treue Haushälterin, Freundin und Nanny ihres Sohnes Martha, ihr einen Zeitungsbericht vorlegt, in welchem von einer angeblich mythischen Schlange in Aldwinter, Essex, berichtet wird, welcher in jüngerer Zeit wiederholt Menschen zum Opfer gefallen sind, beschließt sie ihrer Leidenschaft für Naturgeschichte zu frönen und der Sache auf den Grund zu gehen.
Naturgeschichte ist ihre Passion. Und so hat sie in einem Selbststudium wissenschaftliche Werke der Geschichte, Biologie, Geologie und auch „The Origin of Species“ von Charles Darwin gelesen, natürlich heimlich und verborgen vor ihrem Gatten und der Öffentlichkeit, hatte man Frauen in dieser Zeit ein akademisches Studium und eine höhere Berufung nicht zugestanden. Martha schafft es Coras Neugier und Forscherseele zu wecken, die sich nun in das Thema einliest und naturkundliche Fachbücher über ausgestorbene Tierarten studiert.
Schon länger teilt Cora die bekannte Hypothese, dass einige Groß-Dinosaurier, nicht komplett ausgestorben seien, sondern in kleinen Populationen überlebt haben könnten, weshalb diese mythische Schlange ein Plesiosaurus sein solle. In der modernen Wissenschaft wird diese Hypothese nicht direkt verworfen, weil es mit Schildkröten oder Krokodilen doch Überlebende aus der Kreidezeit gäbe, aber bisher konnte nicht bewiesen werden, dass auch größere Saurier überlebt hätten.
Kurzerhand entscheidet Cora Seaborne dem engen Korsett der städtischen Gesellschaft zu entfliehen, die lange Zeit der Isolation hinter sich zu lassen, um neue Erfahrungen zu machen. Ihren Sohn Francis und Martha nimmt sie mit auf die Reise zum besagten Küstenort Aldwinter in Essex, wo sie Feldforschung betreiben will.
Die Gegend in Essex, mit ihren Salzhaffs und Marschland (eine Wiesenlandschaft mit viel Matsch, kleinen Tümpeln und Seen, Mooren im Nebel), umspült von Brackwasser, das höchstens in der Fahrrinne etwas Untiefen für kleine Boote bietet, ist gleichermaßen atemberaubend wie unheimlich, findet man ähnliche Bedingungen an der deutschen Nord- und Ostseeküste. Abgebrochene Küstenlinien bieten vortreffliche Möglichkeiten ohne aufwendige Grabungen an tiefere Erdschichten zu gelangen, um Tierfossilien von Ammoniten und Plesiosauriern zu finden. Diese karge graue verödete Landschaft, welche völlig das Gegenteil ist von der bunten und aufgewärmten Stadt, bildet allerdings auch einen ruhigen Gegenpol zur geschäftigen und reizüberfluteten Metropole.
Nachdem die forsche Witwe das enge Korsett der gesellschaftlichen Verflechtungen in der Stadt verlassen hat, scheinen sie nämlich auf dem Land ganz andere Grenzen einengen zu wollen, wenn es ihr nicht gelänge die solchen alsbald mit natürlicher Autorität und Anmut zu sprengen. Mit ihrem Auftritt vor Dorfbewohnern, in Expeditionskleidung, wehenden roten Haaren, einer stattlichen Körpergröße und einem burschikosen Erscheinen, sorgt sie bei der Landbevölkerung für Aufsehen, wenn sogar Schrecken. Vikar Ransome, ein belesener, kultivierter und aufgeklärter Geistlicher und Familienvater, beginnt ein freundschaftliches Verhältnis mir ihr. Er setzt sich dafür ein, dass Cora die Kinder in der Schule besuchen und über die Naturlehre aufklären darf.
Die Kinder wollen wissen, ob es die Schlange wirklich gibt, doch Cora sagt frei und ehrlich heraus, dass sie das selbst nicht wisse. Die Kinder geraten in panische Angst und verhalten sich wie vom Teufel besessen, verdrehen die Augen und fallen in Ohnmacht. Die frömmelnden Dorfbewohner machen Cora Seaborne dafür verantwortlich und unterstellen ihr mit dem Teufel im Bunde zu sein. In der Reflexion des Geschehens, gibt sich Cora selbst die Schuld und ist doch tief erschrocken, dass so etwas passieren konnte. Von außen betrachtet mag das Ereignis übernatürlichen Charakter haben, so als sei es ansteckend und alle vom Teufel besessen. Ihre Empathie sagt ihr, dass die Kinder wirklich große Furcht hatten und nichts davon vorgespielt gewesen sei.
An dieser Stelle festigt das Drehbuch den Fiktionsvertrag mit den Zuschauern, denn natürlich sind die Kinder nur Schauspieler in einem filmischen Werk, die hier jedoch so überzeugend spielen, dass man verdrängt, dass es ein Schauspiel für den Zuschauer sein soll. Gelungen ist es also hier die fiktionale Perspektive von Cora auf den Zuschauer zu übertragen, so dass er in ihre Lage versetzt wird, jetzt nachzudenken, wie so etwas passieren konnte. Coras feste Überzeugung ist, dass es nicht übernatürlich ist, so dass sie nach einer Erklärung für dieses Phänomen sucht, das in dieser Zeit und der Menschheitsgeschichte davor immer wieder berichtet wurde, zumeist aber von gläubigen Menschen, die keine wissenschaftlichen Fragen stellten. Zahlreiche Wissenschaftler aus verschiedenen Fachrichtungen haben sich mit diesem Phänomen beschäftigt, welches man mit dem religiösen Terminus „Besessenheit“ besetzte.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erkämpften sich neue Fachbereiche innerhalb der Ärzteschaft ihren Platz in der Wissenschaft und zwar nicht nur gegen die religiösen Dogmatiker, sondern auch gegen die eigenen Kollegen, die ihre Wissenschaft rückwärtsgewandt unter religiöser Prägung betrieben. Zu den bekannten aufstrebenden Wissenschaftsrichtungen, die uns heute selbstverständlich vorkommen, gehörten gegen Auslaufen des 19. Jahrhunderts u.a. die Chirurgie und die Psychologie, letzteres damals noch Nervenheilkunde genannt. Der junge Arzt, Chirurg und Freudianer, sowie Coras Verehrer Luke Garret, übernimmt hier die Rolle des progressiven Wissenschaftspioniers und ist bei der Aufklärung behilflich.
Luke führt das Beispiel der „Hexenprozess von Salem“ ein, bei welchem als Ursache möglicherweise ein Gift eine Rolle spielte, welches die Gehirnchemie der Frauen in der protestantischen Gemeinde Salem in Massachusetts verändert haben solle. Er ist der Überzeugung, dass es der Mutterkornpilz (claviceps purpurea) gewesen sei. Die Wirkung des Mutterkornes ist von der heutigen Warte schon länger belegt, weshalb es seit der Industrialisierten Getreideproduktion des 20. Jahrhunderts, von Fachpersonal während der Produktion, herausgefiltert wird, im Gegensatz zu der Zeit vor dem 20. Jahrhundert, wo das halluzinogene Gift unkontrolliert in Broten verbacken und über die Nahrung in die Gehirne der Menschen gelangen konnte.
Unter anderem vermutet man, dass es nicht nur bei den Frauen aus Salem eine Rolle spielte, sondern auch bei den sog. Prophezeiungen des Nostradamus. Nostradamus ist heute ausschließlich bekannt für diese interessanten aber fragwürdigen Prophezeiungen, deren Wunder nicht ihr Text, sondern die der Auslegekunst seiner Erklärer gewesen seien, so der Philosoph Max Dessoir. Nostradamus musste über diese grundlegenden Erkenntnisse der Pharmakologie verfügen, denn war er nachweislich von Beruf Apotheker, jedenfalls das was man Anfang des 16. Jahrhunderts unter einem solchen verstand. Die Wirkung des Mutterkorns war ihm mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bekannt. Auch Nostradamus war gewissermaßen Pionier der Naturwissenschaft, wurde seine Profession des Apothekers akademisch jedoch nicht anerkannt, weshalb ihm das weitere ärztliche Studium an der Universität Montpellier untersagt wurde.
Nach diesem kurzen Exkurs in die Wissenschaftsgeschichte, kann man zusammenfassen, dass die Wirkung des Mutterkornes ausgewählten Menschen schon lange bekannt war, mit Gewissheit auch schon in frühen Kulturen bei schamanischen Riten, aber mit Sicherheit nicht der einfachen bildungsfernen und frömmelnden Landbevölkerung. Nun wird auch deutlich in welchem Spannungsfeld Cora sich bewegt, nämlich zwischen ihren modernen zweifelnden skeptischen Fragen, die natürliche Ursache für Phänomene zu finden und der religiös frömmelnden Gesellschaft, welche das Werk Gottes nicht zu hinterfragen wagte, weil man Angst vor der Strafe Gottes hatte, wenn man zweifelte, statt zu glauben.
Cora befindet sich nun in einer heiklen Situation, denn unter ihrer Verantwortung war es zu diesen Besessenheitsfällen gekommen, weshalb sie von der Dorfgemeinschaft nun als Satans Dienerin wahrgenommen wird. War sie davor schon von Missachtung gestraft, weil sie eine alleinstehende selbstbewusste Frau ist, wird sie nun von dem geistlichen Matthew Evansford als Blasphemikerin und Ketzerin bezichtigt. Evansford ist nicht irgendwer, sondern ist der Kurator der Kirchengemeinde und Dorflehrer.
Man könnte sagen, dass er der Chef-Prophet bzw. Propagandist der Gemeinde ist. Wenn er offen Anklage gegen Cora Seaborn erhebt, könnte das dramatische Folgen haben. Doch ihm übergeordnet ist Vikar Ransom, der Cora nicht nur zugetan ist, sondern der ebenfalls der Aufklärung zugetan ist. Als er versucht zu intervenieren und seinen subordinierten Kollegen Evansford zu beschwichtigen, verbreitet dieser schon feist neue Kunde über das nächste unheilige Ereignis. War der Zuschauer Zeuge davon geworden, wie offenbar ein Wal ein Boot mit Fischern angegriffen hat, wurde das Ereignis von den Beteiligten ganz anders wahrgenommen, nämlich als göttliches Warnzeichen. Außerdem findet man schon bald die entstellte Leiche des vermissten Mädchens. Der Kurator sieht sich in seinem Glauben über die unglückselige Anwesenheit Cora Seaborns im Dorf bestätigt.
In dieser Situation wird ein weiterer Konflikt innerhalb der katholischen Kirche sichtbar. Vikar und Kurator stehen sich innerhalb ihrer Glaubensgemeinschaft unversöhnlich gegenüber, wobei Vikar Ransom an einer Schlichtung interessiert ist. Es ist auch kein Wunder, dass in der Erzählung auch immer wieder Darwin erwähnt wird, welcher den Groll der Kirche auf sich zog, obwohl Charles Darwin nicht nur Naturwissenschaftler war, sondern auch Theologe und engagiert in seiner Kirchengemeinde. Die Figur des Vikar Ransom bedient sich aber nicht der Biographie Darwins, vielmehr steht er für die Versöhnung von Aufklärung und Glauben. Er erklärt sich offen gegenüber der zweifelnden Cora als ihr Unterstützer und glaubt nicht, dass sie die Ursache der Besessenheitsfälle sei. Die wahre Erklärung für die Eskalation in der Dorfschule bleibt den Beiden jedoch verborgen und auch wenn der Arzt auf der richtigen Spur ist, nämlich eine psychologisch-neurologische Ursache zu vermuten, sind sie alle weit davon entfernt das Phänomen der Massenpsychose zu erkennen.
In der Reflexion der Massenpsychose der Kinder, war der Pilz des Mutterkornes wohl nicht beteiligt, denn die Auswirkungen dessen hätte man schon viel früher beobachten müssen. Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt der Schulszene, nämlich die Frage inwieweit Kinder aufgeklärt werden sollten. Cora Seaborn hinterfragt ihre eigene Schuld bei der Massenpsychose als einziger wissenschafts-kritischer Charakter. Die Lösung wird nicht präsentiert, sondern eher das Problem verdrängt, doch ist Cora Seaborn, aus der Sicht der heutigen Pädagogik, tatsächlich die Verursacherin der Massenpsychose. Die einzige Klasse der Dorfschule ist von großer Heterogenität bei Alter, individueller Entwicklung und individuellem Bildungsstand geprägt, erstens mit Kleinkindern in der „magischen Phase“ sowie mangelhaft aufgeklärten Kindern und Pubertierenden, welche durch religiöse Indoktrination naiv geprägt sind. Kinder im Altersspektrum von 3 bis 6 Jahren durchlaufen nach dem Entwicklungspsychologen die sog. Magische Phase, die von einem Denken geprägt ist, bei welchem die Kinder glauben, dass es Geister & Feen in der Realität gibt, ebenso wie auch Storch, Osterhase, Nikolaus, Weihnachtsmann oder Christkind. Deshalb findet man solche Fantasiegestalten in jeder Ethnie wieder. In dieser Zeit haben Kinder Träume und Visionen, die sie nicht von der Realität unterscheiden können, überall wird ein Sinn gesehen, auch wenn es ein Zufall ist. Der Zufall in der Schulszene war das Herunterfallen des Tintenfasses, dessen Tinte sich auf dem Boden verteilte wie Blut. Dieser überraschende unvorhergesehene Zufall wirkte als Trigger und wurde mit der Angst der Kinder mit einem schlechten Omen, Vorahnung bzw. Vorzeichen verknüpft. Voraus ging aber das panische Verhalten einiger Kinder, die mit ihrer Panik auch bei den anderen Kindern Panik auslösten. Diesen Vorgang nennt man induzierte wahnhafte Störung. Der Wahn verbreitet sich wie ein Virus, das stellt Cora fest, wenn er von einem Kind zum nächsten springt, ohne dass Betroffenen danach noch Kontrolle über ihr Verhalten hätten. Die Kinder hatten schon im Vorfeld große Angst und Albträume, was der Zuschauer bei Naomi beobachten konnte, die des nachts von einer Möwe geweckt wurde, die in ihr Haus flog. Schon dieser gewöhnliche Vorgang ließ sie aufschrecken, wodurch man beobachten konnte, dass hier schon Symptome einer Psychose vorliegt. Meistens überstehen Menschen Angstsituationen indem sie schnell wieder zu einer rationalen Einschätzung der Gefahr übergehen, doch in einer andauernden existenziellen Angstsituation oder in Schocksituationen kann die Gehirnchemie versagen und irrationale Ängste die Kontrolle übernehmen. Aus dieser Situation kommt ein Mensch nicht ohne zielgerichtete Therapie heraus. Noemi hatte diese Chance nicht, denn nachdem sie miterleben musste wie ihre Freundin von dem "Monster" – was immer es auch war - unter Wasser gerissen wurde, erlitt sie ein post-traumatisches Stresssyndrom. Nicht nur, dass das Trauma immer wieder Ängste auslöst, Angst generalisiert sich und überträgt sich in der Folge auf die gesamte Psyche, so dass wahnhafte Zustände (Psychosen) entstehen. Mit ihrer Psychose induzierte sie ihren Wahn auf andere Kinder in der Schule. Cora war eigentlich gekommen, um den Kindern die Angst zu nehmen, doch sie hat nicht damit gerechnet, dass sie in dieser sensiblen Situation, mit ihrem Verhalten die Massenpsychose triggert. Ihr selbst wird das auch in der ganzen Erzählung nicht klar und kann nur vom Zuschauer selbst entschlüsselt werden. Und so kommt die entscheidende Situation als die Kinder Cora besorgt fragen, ob es das Monster nun gäbe oder nicht. Sie antwortet wissenschaftlich nüchtern, so wie man es in der Wissenschaft tut und gibt sich unsicher.Vielleicht ist es ein Fossil, das überlebt hat. Ich weiß es nicht, ob es existiert. Das will ich ja herausfinden.
- Cora Seaborn
Wenn man es mit Kindern zu tun hat, dann muss man Botschaften kindgerecht vermitteln und zwar nach Bildungs- und Entwicklungsstand. Manche Eltern haben bestimmt versucht ihren Kindern solche Fantasien wie Osterhase oder Weihnachtsmann früh zu nehmen, weil sie sich als Atheisten oder Agnostiker wähnen. Doch es gelingt vielleicht den Kindern in der magischen Phase die speziellen fiktiven christlichen Protagonisten zu nehmen, aber nicht das magische Denken, welche mit Freude und Angst verknüpft sind. Cora Seaborn hat also kleinen Kindern die wissenschaftliche unsichere Ansicht offenbart, im Sinne der Aufklärung, aber die Kinder damit grob fahrlässig verängstigt.
Bei all dem Aufklärungsdrang und der Suche nach der Wahrheit, kann man das Unsicherheitsgefühl von Menschen nicht einfach negieren. Jeder Mensch glaubt an Dinge, die er nicht sicher weiß. Ganz automatisch stellt man sich den Wecker für den nächsten Tag, obwohl es unsicher ist, dass es einen nächsten Tag überhaupt gibt. Täglich unterschätzen wir Risiken, andere überschätzen wir, auch Glück wird überschätzt. Das liegt daran, dass der Mensch ohne Glauben nicht leben kann. Er muss in die Unsicherheit hinein glauben. Diesen Vorgang nennt man Kontingenzbewältigung, also so tun als hätte das Leben keine Lücken. Der Mensch kann nicht erst einen Schritt tun bis er 100%ig sicher ist, dass er nicht stolpert, denn diese Sicherheit existiert nicht. Die Reflexion über diese Feststellung spiegelt sich in folgendem Dialog zwischen der Naturwissenschaftlerin Cora und dem Geistlichen Will wider:
Ich dachte, dass Sie stichhaltige Beweise Vermutungen vorziehen.
Wissenschaft erfordert Treue, […] um den Sprung im Dunkeln zu wagen, von Unwissenheit zu Verständnis.
Glaube!
Du bist also gegen den Fortschritt?
Du bist eingeschränkt mich in einer sehr schmalen Sicht zu sehen.
Möglicherweise erwarte ich so ein Urteil; weil ich eine Außenseiterin bin, zu mindestens aus den Augen der Kirche.
Jesus war ein Außenseiter.
Im weiteren Verlauf kommt es zu Dialogen, in welchen beide zueinander finden und ihre Denkansätze verbinden, so dass das Thema Aufklärung versus Glauben in der folgenden Aussage des Vikars Ransome gipfelt, die im englischen Original zudem eine Mehrdeutigkeit bietet, was "illuminating" und "light" betrifft.
Das war einmal, aber in der heutigen Zeit ist er sehr etabliert.
We both speak of illuminating the world, but we have different sources of light. […] Not even knowledge takes all the strangeness from the world
– Vikar Will Ransome
Wissenschaft mag also erleuchtend sein, also aufklärend, aber den Glauben durch Wissenschaft zu ersetzen, das würde die Quellen des Lichts der Erkenntnis determinieren in einer an sich sinnfreien Realität selbst einen Sinn zu stiften. Diese Erkenntnis ist weder oberflächlich noch ist sie neu, denn hat sich zum Beispiel der französische Philosoph Albert Camus in seinem berühmten Essay „Der Mythos des Sisyphos“ mit der Frage nach dem Sinn des Lebens beschäftigt. Diese Frage „Was ist der Sinn des Lebens?“ wird gerne gestellt und von Naturwissenschaftlern bekommt man regelmäßig die schmale aber tief überzeugte Aussage zu hören: „Fortpflanzung“. Doch die Fortpflanzung hat keinen Sinn aus sich heraus, sondern ist bloß ein naturgesetzlicher evolutionärer Vorgang, der bei uns Menschen relativ gesehen sinnlich ablaufen kann, wenn man nämlich den ein oder anderen Sinn damit verbindet. Ansonsten ist die Fortpflanzung einfach nur ein Vorgang, dem unterstellt wird, dass er den Sinn habe das Fortbestehen der Menschheit zu sichern. Dieser Sinn ist frei erfunden, denn dem Universum ist unser Fortbestehen genauso egal, wie all den Verstorbenen. Die Evolution ist kein Gesetz, nach welchem jeder Mensch ein Interesse am Fortbestehen der Menschheit hat. Es ist der individuelle Sinn den man mit dem Fortpflanzungsakt verbindet. Im 21. Jahrhundert ist es jetzt keine Seltenheit mehr, nachdem die religiöse bzw. politische Indoktrination für die Fortpflanzung der Einsicht gewichen ist, dass Menschen keinen Sinn in der Fortpflanzung sehen dürfen und es auch tun. Dass Menschen in natürlichen Vorgängen einen Sinn erkennen, nennt man in der Wissenschaft auch naturalistischen Fehlschluss. Der naturalistische Fehlschluss lohnt der genaueren Betrachtung. Er ist ein Überbleibsel des magischen Denkens und selbst ausgezeichnete Wissenschaftler begehen diesen Fehler. Naturalistische Fehlschlüsse können fatalistische Folgen haben, denn besagt das Thomas Theorem:Wenn Menschen Situationen als wirklich definieren, sind diese in ihren Konsequenzen wirklich, gleich ob die Ausgangssituation objektiv irreal war.
- W. I. Thomas und D. S. Thomas
Ein berühmter naturalistischer Fehlschluss ist der Sozialdarwinismus. Aus der Evolutionslehre von Charles Darwin entnommen gibt es zum Beispiel den darauffolgenden Schluss der Sozialdarwinisten, dass wenn das Gesetz der Evolution den am besten Angepasstesten überleben lässt, man behinderte Menschen als lebensunwert beseitigen müsse bzw. dass man sozial- oder bildungsschwächere Menschen nicht helfen dürfe, weil man damit die Evolution behindern würde. Der erste Mensch, der Feuer mittels Reiben von zwei Hölzern aneinander erzeugt hat, war eher kein erfolgreicher Jäger, sondern eher ein Eigenbrötler oder gar Autist. Auf die Idee bestimmte Erze zu fördern und sie in einem komplizierten Prozess zu Eisen oder Stahl oder verschiedenen Legierungen zu verarbeiten, baut sicher auch nicht hauptsächlich auf dem Vorhandensein physischer Kräfte einer Person auf. Stephen Hawkings hätte sicher in einer sozialdarwinistischen Gesellschaft nicht so lange gelebt und wissenschaftlich gewirkt, aber auch viele andere geistig oder körperliche Behinderte oder schwache Menschen, hätten nicht Meilensteine des Fortschritts setzen können. Besonders am Anfang des 20. Jahrhunderts war die sozialdarwinistische Eugenik nicht nur in Deutschland auf dem Höhepunkt ihrer Blüte.
Quasi als Antiprogramm zum Widerstreit von Naturwissenschaft und Glauben bietet die Serie aber noch einen anderen Aspekt an, wie man der Natur begegnen kann. Coras Sohn erforscht die Natur auf seine ganz eigene Weise, mit einem anderen Verständnis, völlig ohne den Konflikt zwischen Atheismus und Theismus. So trifft er auf den greisen Einsiedler Mr. Cracknell, der gleich zu Anfang zu verstehen gibt, wie er sich in diesem Streit positioniert, nachdem Cora in fragt, ob er glaubt, dass ein Monster die Mädchen getötet habe.
Das ist nicht eine Sache des Glaubens. Überraschende Fluten gibt es hier, die immer wieder Menschen töten, ansonsten gibt es hier nur Aale und Seehunde. Was ich meine ist, dass wenn man nicht an Gott glaubt, dann glaubt man auch nicht an den Teufel.
– Mr. Cracknell
Der Einsiedler Cracknell gibt damit zu verstehen, dass es sich um natürliche Phänomene handele. Es spricht viel dafür, dass er ein sehr guter Naturbeobachter ist, der mit Pflanzen und Tieren im Einklang lebt. Der Kernsatz in seiner Rede bezieht sich darauf, dass Menschen, die an Gott glaubten automatisch auch an den Satan glaubten. Daraus ergibt sich die weitere Einsicht über einen unheilvollen Dualismus zwischen Gut und Böse, in welches die Gläubigen alle Phänomene der Welt einordnen. Mit seiner naturalistischen Sicht befreit er sich quasi aus dem dualistischen Denken. Im Naturalismus ist nichts schön oder hässlich bzw. böse oder gut, sondern alles hat Anteil am großen Ganzen. Diese Interpretationslücke aus Cracknells Rede muss aber erst gefüllt werden. Und das ist in dieser Serie die größte kognitive Leistung. Wer nun einwendet, dass die naturalistische Interpretation seiner Rede herbeifabuliert ist, der wird um einiges später widerlegt, nämlich in der Szene, wenn Cracknell stirbt und einen deutlicheren Hinweis auf seine Weltanschauung gibt.
Es riecht nach Tod. Er ist da draußen. Er erdrückt mich. Mein Herz. Das Wasser ist schwarz. […] Das ganze Universum, es lebt, und ich bin ein Teil davon.
– Mr. Cracknell
Diese Aussage über das lebende Universum vermittelt am deutlichsten die Weltanschauung Cracknells, die auf eine tiefe Verbindung mit der Natur zurückgeht. Diametral entgegengesetzt zur Bibel, in welcher Gott den Menschen auserkoren hat über die Natur und alles was lebt zu herrschen, sieht sich der Einsiedler nicht als Herrscher, sondern als Teil des großen Ganzen bzw. des ganzen Universums. Diese Sicht findet man in der antiken Gnosis sowie den Naturreligionen der frühen Menschheitsgeschichte wieder, was für mich persönlich ein Hinweis darauf ist, dass die Menschen früher noch in der Natur, mit der Natur und nicht entfernt gegen die Natur gelebt haben. Diese Stellung zur Natur legitimiert den Menschen nicht zum Herrschertum - eine Macht, die er nachweislich nicht besitzt, auch heute, mehr als 100 später, als jene Epoche in der die Serie spielt - sondern sie ordnet ihn der Natur unter. Die Bibel fördert einen anthropozentrischen Blick, eine egozentrische Haltung der Menschheit zur Schöpfung zutage, wodurch auch deutlich wird, dass es eher nicht Gott war, der die Menschheit zur Krone der Schöpfung gemacht hat, sondern die Menschen haben sich in einer eitlen gar narzisstischen Weise selbst krönen wollen.
Gerade in einer Zeit der Klimakrise, wenn die Menschheit deutlich bemerkt, dass sie die Natur nicht beherrschen, sondern ausbeuten, schädigen und die Natur sich dafür rächt, wird nochmal deutlich, dass Haltungen, wie des Einsiedlers in „The Essex Serpent“ aus dem vorletzten Jahrhundert, eine demütige und weise Anschauung der Welt verkörpern. Die Natur in ihrer Repräsentation als Gut und Böse zu sehen, hat uns Menschen dazu verleitet, Pflanzen und Tiere zu töten, die wir für wertlos oder schädigend hielten, aber dadurch wird das gesamte Ökosystem, das große Ganze, in seiner Statik ins Wanken gebracht, so dass es zu Kipppunkten beim Weltklima kommen kann, welche für uns Menschen lebensbedrohliche Veränderungen mit sich bringen können. Des Einsiedlers Weltanschauung ist nicht eine, die man aus den heutigen Erkenntnissen auf eine Figur in einem Roman, der in einer früheren Zeit spielt, projiziert hat oder mit anderen Worten, es ist nicht so, dass es diese Einsichten nicht schon vor den sichtbaren Konsequenzen des Klimawandels gab, sondern Darwin selbst postuliert die gleiche Einsicht im folgenden Satz:
Alles was gegen die Natur ist, hat auf Dauer keinen Bestand.
– Charles Darwin
Angemerkt sei hier, dass Darwin mit Natur die Naturgesetze meint, denn der Begriff Natur scheint durch diverse Weltanschauungen unterschiedlich besetzt zu sein, so dass der Eindruck entstehen könnte eine Bluttransfusion oder ein Herzschrittmacher seien unnatürliche Dinge, doch auch sie funktionieren nur auf Basis der Naturgesetze. Von Darwin lässt sich auch etwas über Ökologie lernen und zwar über die Beziehung von Biodiversität und dem Funktionieren von Ökosystemen, eines der aktuell wichtigsten Themen unserer Zeit. In seinem Werk „Origin of Species“ von 1859 beschrieb er ein Experiment, bei dem sich zeigt, dass eine größere Diversität von experimentell angepflanzten Gräsern zu einer höheren Produktivität der Pflanzen führte.
Die Erzählung erscheint wie perfekt auch Themen von heute reflektieren zu können. Dazu gehört auch die Emanzipation der Frau von Heute ins viktorianische Zeitalter zu übertragen, wo das doch damals alles andere als statthaft war, für eine Frau aus dem höheren Stand. Als woke wird in der Erzählung die Person der Haushälterin, Nanny und Freundin Martha, empfunden, welche aus dem Proletariat stammt, emanzipiert, politisch als Sozialistin engagiert und Homosexuell ist. Zu stereotypisch sei das, feixen die Kritiker schon, doch mag die Biografie der Martha klischeebeladen klingen, sind es die Erfahrungen, die sie zu ihrer Zeit macht eben überhaupt nicht, so dass schon ein gewisser dramaturgischer Tiefgang geboten wird und nicht nur woker oberflächlicher Schmuck.
Die Figur der Cora Seaborne scheint genauso ein rotes Tuch für Kritiker zu sein, doch zeigt sie Parallelen zur historischen Person Ida Pfeiffer. Diese wurde 1797 in Wien geboren, hatte eine schwierige Kindheit, musste im Alter von 23 heirateten und verwitwete im Alter von 41 Jahren. Es war die Erbschaft der verstorbenen Mutter und die Freiheit als Witwe, welche es ihr ermöglichte zahlreiche Expeditionsreisen u.a. in den Nahen Osten, Mauritius, Madagaskar, die skandinavischen Länder und zwei Weltreisen zu unternehmen, für welche sie sich im Vorfeld naturkundliche Erkenntnisse und Techniken aneignete sowie einige Sprachen.
Mit ihren schriftlichen Werken bereicherte sie die Naturgeschichtskunde und Ethnologie. Ihr männlicher Zeitgenosse Alexander von Humboldt lobte sie in der Öffentlichkeit über allen Maßen, weil sie unglaubliches geleistet habe. Schließlich erhielt sie 1856 vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. die „Goldene Medaille für Wissenschaft und Kunst“, auch wurde sie in die „Berliner Ethnographische Gesellschaft“ und die „Französische Geographische Gesellschaft“ aufgenommen, während man ihr die Aufnahme in der „Londoner Geographischen Gesellschaft“ versagte, da laut Statuten keine Frauen Mitglieder sein durften. Beim Stichwort London schließt sich der Kreis und es lässt sich deutlich erkennen, dass Cora Seaborne keine realitätsferne ahistorische Figur ist, weil es eben, wie im Fall von Ida Pfeiffer, ähnliche Biografien gegeben hat, in welchen Frauen die engen Grenzen der Gesellschaft überwinden konnten. Hier wäre auch noch ein weiterer Name zu nennen, nämlich die Zoologin und Ethnologin Prinzessin Therese von Bayern, die sich ebenfalls nach der Verwitwung einem Selbststudium unterzog. Auch sie wurde nach umfangreichen naturwissenschaftlichen Studien in die „Geographische Gesellschaft“ aufgenommen.
Die fiktive Naturwissenschaftlerin Cora Seaborne, wird keine weltweite Expeditionsreise anstreben, jedenfalls nicht in dieser Erzählung, da leider kein Fortsetzungsroman existiert. Man könnte der Autorin Sarah Perry durchaus vorwerfen, dass sie ihre Protagonistin nur scheinbar emanzipiert und explorativ ausgestattet hat, weil am Ende jeder Drang die Forschung weiter zu betreiben in einer angedeuteten Romanze aufgelöst wird. Doch die Qualitäten der Erzählung liegen woanders, da die Pointierung, neben einer empathischen coming-of-age Romanze für gleich vier Beteiligte, glücklicherweise auch auf den Widerstreit von Aberglauben/Glauben und Wissenschaft ausgerichtet ist und eben auch Fragen der gesellschaftlichen Moral zugespitzt erörtern kann.
Diese Rezension wies nach, dass sich hinter so mancher Rede mehr verbirgt, wenn man weiß, welche Thematiken angesprochen wird. Hier gibt es also tatsächlich Qualitäten, welche die Serie zu einem Kunstwerk mit ansprechender wendungsreicher und zugleich kontemplativer Unterhaltung machen. Darüber hinaus bietet das langsame Schauermärchen auch Schauwerte in brillanten Szenenbildern, mit eindrucksvoll fotografierten Landschaften, von denen in der Rezension einige präsentiert worden sind. So schließt diese Rezension auch mit einem mächtigen Bild und der dazugehörigen Rede.
Leuchtende Nachtwolken, wodurch entstehen Sie?
Manche sagen Feuchtigkeit, andere die Asche von Krakatao.