Benito Mussolini, Führer der faschistischen Bewegung in Italien, Ministerpräsident, zeitweise auch Innen- und Außenminister, der Il Duce Italiens, ist nicht so oft auf der Leinwand zu sehen wie Adolf Hitler. Nun hat sich der 60-jährige Regisseur Marco Bellocchio seiner Jugendgeschichte angenommen und schaut auf Ida Dalser, seine Geliebte. Während er seine Freundin und Mutter seiner zwei Kinder Rachele Guidi heiratet, hat er mit ihr eine längere Liebesbeziehung. Sie bringt ihm einen Sohn zur Welt. Aber als sie mehr von ihm einfordert, eine öffentliche Stellung an seiner Seite, wird sie unsanft fortgeschoben: Der Diktator lässt sie ins Irrenhaus stecken. Getrennt von ihrem Sohn stirbt sie dort 1937.
Ein Favorit in Cannes dürfte Vincere nicht sein. Wenig aufregendes wird berichtet, die meisten Kritiker sahen solides Kino, vermissten aber die politische Brisanz. Anke Westphal von der Berliner Zeitung nennt den Film eine opulente Märtyrergeschichte. “Archivbilder aus dem Italien zwischen 1907 und 1945 sind zwischen die Spielszenen geschnitten, wie um historische Authentizität zu beglaubigen, und die Figuren gehen selbst gern ins Kino – sogar in dem Feldlazarett, in dem Mussolini seine Verletzung im Ersten Weltkrieg auskuriert, werden Filme gezeigt. Das alles zeugt von viel Liebe zur Geschichte jenes Mediums, das Cannes feiert. Zutiefst bedauerlich ist jedoch, dass sich Marco Bellocchio nicht recht dafür interessiert, welchen politischen Überzeugungen denn seine Heldin anhängt.” Dagegen ist es Hanns-Georg Rodek in der Welt etwas zu viel an Archivbildern. Laut dem Kritiker geht es dem italienischen Filmemacher “weniger um den Diktator als um die Feigheit des Bürgertums, von Dalsers Verwandten und Bekannten, die der Justiz und der Kirche, die sie alle im Stich lassen. Anders als Pedro Almodóvar hat Marco Bellocchio allerdings seinen Stoff nicht im Griff und behilft sich zum Schluss zunehmend mit historischem Dokumentarmaterial, wenn er seine Geschichte zu Ende erzählen sollte.”
Christoph Egger von der Neuen Züricher Zeitung kann dem Film nicht viel abgewinnen. “Weder das Drehbuch des ambitionierten, jedoch auch formal etwas ratlosen Films noch die Rollenkonzeption vermögen mit dem Umstand klarzukommen, dass hier offensichtlich eine große Liebe auf fatale Weise an das falsche Objekt gewendet wurde.” Das sieht auch Michael Sennhauser auf seinem blog ähnlich. Er sah zwar einen kunstfertigen, manchmal ziemlich effizienten Film mit einem klaren Anspruch und klassischer Unterfütterung, aber vieles bleibt “Behauptung, die wunderschöne Giovanna Mezzogiorno als Ida kommt nie ganz auf den Boden, und Filippo Timi, der sowohl den jungen Mussolini wie auch später seinen nicht anerkannten Sohn spielt (und sich in dieser zweiten Reinkarnation auch noch als Parodist des Originals betätigt) flüchtet sich ein wenig zu oft ins Augenrollen und Stirnfalten legen.”
Nur Daniel Kothenschulte in der Frankfurter Rundschau argumentiert überaus wohlwollend. Der Film behandelt “die oft behauptete, aber schwer darstellbare erotische Faszination des Totalitarismus. … Marco Bellocchio nimmt die Perspektive seiner Protagonistin ein, und in den stärksten Momenten macht er sie sich derart zu eigen, dass sogar einer frühen Sex-Szene mit dem Noch-Kommunisten nichts Peinliches anhaftet. Im Gegenteil: Die Bewunderung scheint emotional erklärlich. Anders als die jüngsten deutschen Ausstattungsfilme über die Nazi-Zeit verfällt Bellocchio nicht in illustrativen Naturalismus. Trotz aufwendiger historischer Ausstattung besitzt jede Szene ihren eigenen Stachel der Verfremdung.”
Ob und wann Vincere von Marco Bellocchio in unsere Kinos kommt, ist noch nicht geklärt. Eine Auszeichnung in Cannes wäre da bestimmt hilfreich.