Im Mai 2012 war ganz Frankreich, wie auch der Rest von Europa, von grauenhaften Schreckensnachrichten bestimmt: Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine und Aserbaidschan, die G8 tagte einmal mehr weitestgehend erfolglos über die Wirtschaftskrise und die Griechen fühlten sich vom Akropolis Adieu-Titelbild eines deutschen Nachrichtenmagazins beleidigt. Doch halt! Ganz Frankreich? Aber nein! Es gab da noch ein kleines Dorf an der Côte d’Azur, das sich wie jedes Jahr den Schreckensmeldungen widersetzte und seinen ganz eigenen Zirkus veranstaltete.
Parallelwelt an der Croisette
Zum ersten Mal im Jahre 1939 abgehalten, entwickelten sich die Filmfestspiele von Cannes im Laufe des letzten Jahrhunderts zum wichtigsten Wettbewerb der Filmbranche außerhalb der Vereinigten Staaten und der Hauptpreis, die Goldene Palme, zur wichtigsten Auszeichnung neben den Oscars. Und obwohl manch ein Kritiker skeptisch behauptet, die Stadt sonne sich im Grunde nur noch im Glanz alter Tage, zieht das Spektakel doch Jahr für Jahr die Blicke der Cineasten aus allen Ecken der Welt auf sich.
In diesem Jahr feierten die Festspiele gar das 65. Jubiläum, und so strahlte die zeitlose Marilyn Monroe von den Plakaten. Stars schritten in langen Roben über den roten Teppich an der Croisette, vor den Kinos Schlange stehende Journalisten beneideten ihre Kollegen mit besserer Akkreditierung (der weiße Punkt – das Festival-Pendant zu den roten Schuhen von Dorothy in Der Zauberer von Oz), hinter den Kulissen kungelten Produzenten die nächsten Blockbusterveröffentlichungen aus und der Rest der Welt bemühte sich, wenigstens mithilfe der zahlreichen Online-Berichterstattungen den Überblick nicht zu verlieren. Für irgendwelche Eurokrisen blieb da anderthalb Wochen lang keine Zeit.
Ein Kontinent in Aufruhr
Sich vor den schnöden Belangen außerhalb der magischen Welt des Films abzuschotten, hat allerdings nicht immer so gut funktioniert. Die eigenen Leute sorgten dafür, dass sich 1968 die Teilnehmenden nicht nur mit der Situation im Lande befassen mussten, sondern dass das Festival sogar ganz abgebrochen wurde. In ganz Europa erhoben sich damals Studentenproteste, und auch in der französischen Hauptstadt Paris lieferten sich Kommilitonen der Sorbonne Kämpfe mit der Polizei, um gegen die Regierung von Charles de Gaulle zu protestieren.
Es waren hauptsächlich die Nouvelle Vague -Stars Jean-Luc Godard und François Truffaut, die am 13. Mai aus Solidarität mit den Studenten den Abbruch des Festivals forderten. Mehr oder weniger handgreifliche Diskussionen füllten die nächsten Tage, und schnell zogen sie die Jury-Mitglieder wie Roman Polanski, Monica Vitti und Louis Malle auf ihre Seite, die ihre Ämter niederlegten. Teilnehmer wie Milos Forman zogen ihre Filme aus dem Wettbewerb zurück.
„A la grande salle!“
Um den exakten Ablauf des Festivals ranken sich Legenden. Der ungarische Regisseur Miklós Jancsó schrieb später: “Cannes, erster Tag. Mein Film ’”Sterne an den Mützen (Sterne an den Mützen)“:/movies/sterne-an-den-mutzen’ steht auf dem Programm. Junge Filmemacher demonstrieren gegen das ‘bourgeoise’ Festival. Sie werden verprügelt. Der erste Tag ist auch der letzte.” An ein Ereignis konnten sich später aber alle Beteiligten genau erinnern.
Am Mittag des 18. Mai lief gerade die Vorführung des spanischen Films Pfefferminz Frappé von Carlos Saura, als unter Godards Ruf „A la grande salle!“ die Protestierenden Saal und Bühne enterten. Selbst Saura und seine Hauptdarstellerin Geraldine Chaplin ließen sich vom Revolutionsgeist anstecken und klammerten sich an den Vorhang, um die Aufführung zu blockieren. Erfolg hatten sie: das Festival verlautbarte kurz darauf den Abbruch.
Und das Leben geht weiter
Auch nach dem offiziellen Ende von Cannes ’68 rissen die Diskussionen nicht ab. François Truffaut rechtfertigte sich später in einem Interview: “Es hätte eleganter geschehen können. Aber unter diesen Umständen bleibt die Eleganz in der Umkleidekabine, und man verliert zudem den Schlüssel zum Kleiderschrank.” Ein Jahr später startete in Cannes eine neue Nebenreihe, die Quinzaine des réalisateurs. Hier wurden ab sofort Filme „frei von Zensur und diplomatischen Erwägungen“ gezeigt.
Ein zweites Mal gab es kein vorschnelles Ende an der Croisette. Lars von Trier schaffte es mit seinen fragwürdigen Aussagen im letzten Jahr nicht, die Festspiele entscheidend zu stören. Er wurde lediglich zur persona non grata erklärt, und auch in diesem Mai verlief das Festival relativ unspektakulär. Hoffen wir auf die nächsten Jahre.
Verfolgt ihr gern handfeste Festival-Skandale oder konzentriert ihr euch dann doch lieber ganz auf die Filmkunst?
Was die Menschheit sonst noch im (Film)Jahr 1968 bewegte:
Drei Filmleute, die geboren sind
18. Februar 1968 – Molly Ringwald, die rothaarige Claire aus Breakfast Club – Der Frühstücksclub
02. März 1968 – Daniel Craig, Agent 007 aus James Bond 007 – Ein Quantum Trost
10. September 1968 – Guy Ritchie, Kultregisseur von Bube Dame König GrAs
Drei Filmleute, die gestorben sind
20. März 1968 – Carl Theodor Dreyer, Regisseur von Die Passion der Jungfrau von Orléans
16. April 1968 – Fay Bainter, Tante Belle aus Jezebel – Die boshafte Lady
16. Oktober 1986 – Freddie Frinton, der Kultbutler James aus Der 90. Geburtstag oder Dinner for One
Die großen Festival- und Award-Sieger waren unter anderem
Oscars – In der Hitze der Nacht von Norman Jewison (Bester Film, Hauptdarsteller)
Goldener Löwe – Die Artisten in der Zirkuskuppel: Ratlos von Alexander Kluge
British Film Academy Award – Ein Mann zu jeder Jahreszeit von Fred Zinnemann
Die drei kommerziell erfolgreichsten Filme
2001: Odyssee im Weltraum von Stanley Kubrick
Funny Girl von William Wyler
Ein toller Käfer von Robert Stevenson
Drei wichtige Ereignisse der Nicht-Filmwelt
04. April 1986 – der Bürgerrechtler Martin Luther King wird in Memphis ermordet
11. April 1986 – Attentat auf Rudi Dutschke, den Wortführer der deutschen Studentenbewegung
21. August 1986 – Ende des Prager Frühling durch Einmarschieren von Truppen des Warschauer Paktes