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Die Erbschaft

19.10.2016 - 09:00 Uhr
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Warner/moviepilot
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Dieser Artikel entstand im Rahmen der Aktion Lieblingsmonster.

Zwei Wochen war es her, als das Testament eröffnet wurde. Zwei lange, quälende Wochen. Und nun stand Ed hier. War hierher gekommen, um sein Erbe anzutreten. Er versuchte es zumindest. Da war ja noch die eine, für Ed völlig idiotische Bedingung. Die Geschichten, die sich um das Haus seiner Schwester rankten, beeindruckten ihn wenig. Er war mit seinen fast sechzig Jahren alt genug, um über Gespenster oder andere Erscheinungen zu lächeln. Nur weil seine Schwester etwas anders war, erzählten sich die Menschen in Brickston gerne ein paar Gruselgeschichten. Wahrscheinlich wollte man damit nur kleine Kinder erschrecken. Das die Sache dann so schnell aufgeputscht wird, konnte Ed nicht schrecken. Ihn doch nicht. Ein Mann in der Blüte seines Lebens (So stellte er sich zumindest jedem vor: „Hallo, ich bin Ed und ich stehe in der Blüte meines Lebens!“) hatte doch keine Angst vor einem Haus!

So stand er nun da. Zehn Meter vor dem Haus, welches er erben sollte, wenn er es schaffte, eine Nacht darin zu bleiben. Solche Bedingungen kannte er zu gut aus den Gruselgeschichten, die er als Junge immer gern gelesen hatte. Aber das war kein Buch, das war die Realität. Also los! Ed überprüfte ein letztes Mal seine Tasche, denn wenn er etwas vergessen hatte, konnte er es jetzt noch holen. Hatte er das Haus erst einmal betreten, gab es kein zurück mehr. So stand es im Testament. Seine Taschenlampe lag obenauf und die Batterien waren voll. Er wusste nicht, ob er sie überhaupt braucht, aber sicher war sicher. Sein Schlafsack, die Thermoskanne mit Tee, zwei Flaschen Wasser und ein paar Bagels – alles war da. Ed besah sich jetzt ein letztes Mal das Haus von außen. Er war erst zwei Mal drinnen gewesen. Das erste Mal zum Einzug seiner Schwester vor dreißig Jahren und das zweite Mal zum Tod ihres Mannes vor achtundzwanzig Jahren. Seitdem hatte sie sich sehr zurückgezogen und der Kontakt zwischen ihnen ist schnell abgebrochen. Sie hatte sich nach dem Tod ihres Mannes spirituellen Dingen hingegeben, und so ist sie Ed immer fremder geworden. Ed hielt nichts vom Kartenlegen und großen Kristallkugeln, so dass es am Telefon immer wieder zum Streit kam. Irgendwann rief Ed einfach nicht mehr an und verlor sämtlichen Kontakt zu ihr. Und so sah er sich das ehemalige Heim seiner Schwester mit wehmütigen Augen an.

Es war ein zweistöckiges Gebäude mit roten Dachziegel, dreckig weißem Putz und einer grauen Eingangstür. Die Rollläden waren allesamt heruntergelassen, so dass es den Eindruck erweckte, dass das Haus schliefe.

Langsamen Schrittes ging er jetzt auf den Eingang zu. Der Schlüssel lag schwer und kalt in seiner Hand. Der Vorgarten war total verwildert, überall wucherte Unkraut und die Buchsbaumhecke, welche vor neugierigen Blicken schützen soll, schoss wild zum Haus hin. Wie gierige Tentakeln griffen sie auch nach Ed, als wollten sie ihn aufhalten. Doch Ed ließ sich nicht hindern und ging den Zweigen geschickt aus dem Weg. An der Tür angekommen, versuchte er den Schlüssel ins Schloss zu stecken, doch seine leicht zitternden Hände ließen den Schlüssel fallen. Ein leichter Anfall von Beklemmung befiel Ed, während er den Schlüssel wieder aufhob.

„Ruhig Ed, du wirst doch nicht jetzt schon wegen ein paar Geschichten schlapp machen. Du wirst es doch noch mit ein paar Geistern aufnehmen. Auf deine alten Tage ist das doch noch ein Abenteuer, wenn dir Dinge begegnen, die es gar nicht gibt. Also, auf auf , alter Junge!“ Ed lachte lauthals über seine eigene Unruhe und schob mit sicherer Hand den Schlüssel ins Schloss. Er ließ sich leicht drehen und augenblicklich schwang die Tür auf.

„Immer herein hier!“ rief Ed in das leere Haus und machte einen Schritt über die Schwelle. Im Haus herrschte ein fahles Licht und Ed musste einige Sekunden warten, bis sich seine Augen an die Beleuchtung gewöhnt hatten. Als er endlich etwas klarer sah, machte er sich daran, die Rollläden zu öffnen. Auch die Fenster riss er weit auf, um sich selbst und die Räume mit Frischluft zu verwöhnen. Der Mief schlug ihm schon beim ersten Schritt schwer auf die Lungen und er konnte nur flach atmen. Aber bald würde es besser werden! Nachdem er im Untergeschoß alle Fenster geöffnet hatte, sah er sich genauer um. Doch das fiel ihm schwerer als erwartet. Selbst nach fast zehn Minuten war die Luft keinen Deut besser geworden. Auch an der Beleuchtung schien sich nicht viel geändert zu haben. Immer noch sah Ed wie durch einen grauen Schleier. Erst direkt am Fenster war die gute Frühlingsluft zu spüren. Er musste sogar die Augen etwas zusammenkneifen, so hell schien es draußen zu sein. Wie er so am Fenster tief durchatmete, fiel ihm erst auf, wie kalt es im Inneren des Hauses war, obwohl draußen die Sonne angenehme Wärme verbreitete.

‚Die Sonne scheint sich zu weigern, herein zu kommen!’ dachte Ed bei sich und verwarf den Gedanken wegen Schwachsinnigkeit gleich wieder. Aber irgendeinen Grund muss es geben, dass es hier drin so komisch ist.

„Das Haus ist mit meiner Schwester gestorben!“ Sagte er in den leeren Raum und seine Worte hallten lange nach.

„Aber keine Angst, ich werde dich schon wieder beleben!“

Langsam kämpfte er sich durch die dicke Luft und schon bald fiel ihm das Gehen schwer. Nachdem er jeden Raum begutachtet hatte, kam er zu dem Schluss, dass das Haus weit vor seiner Schwester gestorben sein musste. Die Holzdielen knarrten bei jedem Schritt und selbst der Staub war zu schwermütig, um sich aufwirbeln zu lassen. Die Tapeten hingen in Fetzen von den Wänden und Ed glaubte (war sich sogar fast sicher) dass es sich um dieselbe Tapete handelte wie damals zum Einzug seiner Schwester. Aber das konnte nicht sein! Er erinnerte sich noch genau, wie seine Schwester ihm kurz nach dem Tod ihres Mannes erzählte, wie sie frischen Schwung in den Mief bringen wollte und frisch, bunte Tapeten ausgesucht hatte. Gut, die wären jetzt auch schon ein paar Jahre zu lange auf der Wand, aber die Tapeten von damals – das konnte doch nicht sein. Andererseits war seine Schwester jetzt vier Wochen tot, das Haus sah jedoch so aus, als wäre es vor vier Schaltjahren verlassen worden.

„Hier gibt es auf jeden Fall viel zu tun!“ murmelte Ed verständnislos vor sich hin. Nachdem er ein weiteres Mal am Fenster frische Luft getankt hatte, machte er sich auf den Weg nach oben. Auch dort sah es nicht viel besser aus. Die Tapeten hingen trostlos herunter und selbst das Öffnen der Fenster ließ weder Licht noch Luft herein. Die Luft hing wie ein schwerer Klotz im Haus und wollte sich durch nichts vertreiben lassen.

„Wahrscheinlich hat die Umzugsfirma beim Abholen der Möbel auch die vernünftig funktionierende Physik mit eingepackt!“ statt über seinen Witz zu lachen überkam Ed ein eiskalter Schauer. Seine Worte fielen wie Steine dumpf in den Raum. Ed rechnete fast damit, dass seine Worte tonnenschwer auf seine Füße fallen. Ed ging schnell wieder die Treppen hinunter, da fühlte er sich etwas wohler als hier oben. Die zehn Schritte zur Treppe fielen ihm noch schwerer als das Treppensteigen ins Obergeschoß. Er bewegte sich wie durch Pudding. Die Luft schien in den wenigen Minuten, die er hier oben war, an Dichte stark zugenommen haben.

„Übernachten wirst du unten, alter Freund. Hier muss erst mal der Mief abziehen – und das kann dauern! Und ich sage dir noch etwas, du solltest wieder einmal den Doktor aufsuchen, deine Lungen gaukeln die hier ihre eigene Spukgeschichte vor.“ Mit frisch getanktem Mut ging er wieder nach unten und holte dort am Fenster tief Luft. Langsam wurde die Luft etwas besser und auch der Grauschleier hatte sich nach Ed’s Überzeugung etwas gelichtet.

„Na langsam kommt hier wieder etwas Leben herein!“ bei diesen Worten machte er noch unter den Eindrücken von oben einen Schritt zurück.

‚Die Steine!’ schoss es ihm bei jedem Wort durch den Kopf.

Ed setzte sich unter einem Fenster auf den Boden und packte seine Thermoskanne und die Bagels aus.

„Frisch gestärkt sieht alles gleich besser aus:“ sagte er zu sich selber und bis genüsslich in seinen Imbiss. Von draußen hörte er die Vögel leise zwitschern, was ihm vorher nicht aufgefallen war. Wahrscheinlich war gar kein Zwitschern da! Aber jetzt war es deutlich zu hören. Das Haus scheint langsam zu Erwachen. Ed bekam auch schon viel besser Luft und das beruhigte ihn zusehends.

‚Na bitte, es geht doch! Jetzt kann die Nacht kommen!’ dachte er und schob sich den letzten Bissen in den Mund.

Nachdem er seine zweite Tasse Tee getrunken hatte, machte er sich mit neuem Mut auf die Suche nach einem geeigneten Schlafplatz. Nachdem er alle Räume erneut durchstöbert hatte, beschloss er, vor dem Kamin seinen Schlafsack auszubreiten. Draußen begann es inzwischen zu Dämmern und die Räume erhielten ihr Grau von seiner Ankunft zurück. Jedoch schien es dieses Mal nicht so undurchdringlich zu sein, es wirkte eher beruhigend im verblassenden Sonnenlicht. Sein Schlafraum wirkte im Schleier der hereinbrechenden Nacht wesentlich großzügiger als vor einer Stunde, als sich der Mief der letzten Monate (oder Jahre?) langsam verzog. Ed stand auf und begab sich noch einmal nach oben, um die Aussicht zu genießen und die Fenster zu schließen. Schnell ging er die 25 Stufen nach oben und konnte auch dort tief durchatmen, als ihm aber auch gleich der Atem wegblieb. Er hatte seit seiner Kindheit die Angewohnheit, die Stufen einer Treppe zu zählen, ohne jemals zu wissen, warum. Doch heute schien es nützlich zu sein. Er war sich sehr sicher, bei seinem ersten Besuch in den oberen Räumen nur 11 Stufen gezählt zu haben.

„Natürlich waren es 11 Stufen, Ed! Du bist doch nicht blöd und kannst bis elf zählen! Und jetzt waren es 25! Aber das kann nicht sein! Du irrst dich! Du wirst es gleich sehen!“ sein Selbstgespräch gab ihm die nötige Sicherheit zurück, die er eben kurz vermisst hatte.

Er schloss die Fenster und machte sich auf den Rückzug.

„Jetzt zähle aber genau. Ich habe keine Lust, die ganze Nacht Treppen zu steigen, nur weil du des Zählens nicht mächtig bist!“ forderte er sich auf und nahm die ersten Stufen

„Sieben, Acht, Neun… Zweiundzwanzig, Dreiundzwanzig, Vierundzwanzig, Fünfundzw…“ plötzlich begann sich, alles um Ed herum zu drehen. Schnell setzte er sich auf eine Stufe und versuchte durchzuatmen. Er war bei Fünfundzwanzig angekommen, aber die Treppe hatte noch zwei Stufen zu bieten.

„Das kann nicht sein, niemals. Du irrst dich! Bestimmt!“ doch er war sich sicher, das es vorher Fünfundzwanzig waren. Und vor einer Stunde Elf.

„Was soll das?“ fragte er das Haus, ohne überhaupt eine Antwort zu erwarten. Statt einer Antwort geschah etwas viel beunruhigenderes. Vor Ed’s Augen wuchs aus der Treppe eine weitere Stufe. Ed starrte erschrocken auf die neue Stufe. Er wartete eine Weile und erwartete eine neue Stufe, aber es passierte Nichts. Alles war auf einmal still. Weder das Knarren der Treppe noch das Singen der Vögel war zu hören. Langsam legte sich das schwarze Tuch der Nacht über das Haus.

„Ed, du bist einfach nur Müde! Treppen, die wachsen. So einen Blödsinn glaubst du doch wohl nicht. Wahrscheinlich bist du hier einfach kurz eingeschlafen. Die Spukgeschichten haben einfach deine Träume manipuliert. Sieh zu, dass du ins Bett kommst und morgen sieht die Welt besser aus. Geh, bevor du dir in der Dunkelheit sämtliche Knochen brichst!“ Die Kraft kehrte in Ed’s Knochen zurück und er befolgte seinen eigenen Rat und tastete sich in der Dunkelheit zu seinem Schlafsack vor.

Ed trank seine Thermoskanne leer und legte sich dann hin. Ein paar Minuten lauschte er in die Stille des Hauses, welche nur ab und zu vom Knacken des Gebälkes unterbrochen wurde. Schnell hatte er sein Erlebnis auf der Treppe vergessen und schon bald schlief er friedlich ein.

Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, aber er war sich sicher, dass es weit vor Mitternacht war, als er durch ein Weinen geweckt wurde. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er völlig klar wurde, aber je wacher er wurde, desto deutlicher hörte er ein Weinen. Es klang nach einem Kind und es schien von oben zu kommen.

„Hallo? Ist da jemand?“ rief er in die Dunkelheit, aber statt einer Antwort schwellte das Weinen noch einmal an. Jetzt war er sich sicher, dass es von oben kam.

‚Ein Kind, was sich verlaufen hat? Oder doch nur Einbildung?’ Ed wischte die Gedanken von einem Spuk weg, noch bevor er sich manifestieren konnte. Schnell suchte er seine Taschenlampe (das Elektrizitätswerk hatte den Strom anscheinend abgeschaltet, zumindest funktionierte keine einzige Lampe im Haus) und ging Richtung Treppe. Er hatte seinen Schlafraum wesentlich kleiner in Erinnerung, doch im Schein der Taschenlampe sah die Treppe recht klein aus. Der Weg schien ihm auch länger zu sein, als er erwartet hatte. Endlich an der Treppe angekommen (dass der Raum größer als am Abend war registrierte er erst später) rannte er die Treppe hinauf. Obwohl das Weinen fast unerträglich wurde und ihm fast das Herz brach (er mochte Kinder über alles) vergas er nicht, die Stufen zu zählen. Jedoch hörte er bei Neununddreißig auf und begann, die letzten Stufen hinaufzurennen. Endlich oben angekommen, sah er, woher das Weinen kam. Oben saß ein kleines Mädchen in einem weißen Kleid. Die weißen Lackschuhe waren von Staub bedeckt, und die rot-weißen Ringelsocken waren auch von einer dicken Staubschicht bedeckt, so dass das Kleid unnatürlich hell strahlte. Mit großen Schritten eilte Ed auf das Mädchen zu, obwohl ihm bei dessen Anblick ein mulmiges Gefühl überkam. Er glaubte, das Mädchen schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Aber sein Mitleid war größer als dass, was sich langsam als Furcht in seine Knochen schlich. Doch als er das Mädchen tröstend in den Arm nehmen wollte, begriff er, woher er es kannte. Das Kleid, die Schuhe – natürlich.

Er erinnerte sich noch gut an den Tag. Es war der erste Schultag seiner Schwester. Celine hatte dieses Kleid an und war ganz stolz darauf. Sie freute sich so auf die Schule. Doch dann endete der Tag in einem Dilemma. Ed wollte nur schnell mit Celines Hund um den Block gehen. Eigentlich mochte er diese Runden mit dem Hund nicht so sehr, aber heute war doch Celines großer Tag. Also beeilte er sich, die Runde hinter sich zu bringen. Nur zwei Häuser von zu Hause entfernt saß diese blöde Katze auf der anderen Straßenseite und der Hund riss sich los, um dieses Vieh zu fangen. Er hatte noch nicht einmal die Hälfte der Strasse überquert, als der Pickup viel zu schnell angedonnert kam und Celines Schoßhündchen keine Chance ließ. Natürlich hatte Celine den Rest des Tages geheult und natürlich hatte sie Ed dafür die Schuld gegeben.

Und nun saß dieses Mädchen wieder vor ihm und heulte sich die Seele aus dem Leib. Ein dicker Kloß steckte Ed im Hals und er wusste vor Überraschung nicht, was er tun sollte. Doch noch bevor er sich für die Flucht entscheiden konnte, nahm Celine die Hände vom Gesicht. Ihr Gesicht war Tränen überströmt, jedoch waren da keine Tränen sondern sie weinte Blut. In dicken Rinnsalen lief ihr Blut über das Gesicht und tropfte auf ihr Kleid. Ed erstarrte vor Schreck. Er wollte sich umdrehen und die Treppe hinunterstürzen, aber seine Beine verweigerten noch den Dienst. Das Mädchen sah ihn vorwurfsvoll an und entblößte eine Doppelreihe schwarzer Zähne.

„Du hast Pipp getötet!“ sagte sie in einem fast schmeichelnden Ton. Das brachte Ed die Kraft zurück. Diese ruhige Tonlage wollte ihm den Verstand rauben und aktivierte seine Beinmuskeln wieder. Hätte sie ihn angeschrieen – Ed hätte nicht gewusst, ob er wieder bewegungsfähig geworden wäre. Aber so stürzte er voller Grauen die Treppe hinunter. Er wusste nicht, wie lange er drei bis vier Stufen auf einmal übersprang, er war nur froh, irgendwann unten angekommen zu sein. Am Fuß der Treppe sah er weit hinten die Haustür, auf die er jetzt zustürmte. Doch als er diese mit letzter Kraft erreichte, ließ sie sich nicht öffnen. Er konnte noch so sehr daran rütteln, sie gab keinen Millimeter nach. Als seine Beine kraftlos unter ihm wegsackten, ließ er sich einfach fallen und erwartete sein Schicksal. Doch nichts passierte, was ihm hätte Angst machen können. Er saß mit angezogenen Beinen an der Tür und wimmerte in sich hinein. Wenige Meter von sich entfernt sah er seinen Schlafsack am Kamin liegen.

„Ed, was machst du hier? Glaubst du doch an die Geschichten der Leute? Oder wirst du langsam verrückt? Reiß dich zusammen, du bist ein erwachsener Mann! Also leg dich hin und schlafe weiter! Du hast nur geträumt!“

Langsam erhob er sich und wollte zu seinem Schlafsack zurückkehren, als ihm die verschlossene Haustür einfiel. Noch einmal drehte er sich um und drückte die Klinke nach unten. Mit einem leisen quietschen öffnete sich die Tür. Kopfschüttelnd über sich selbst schloss Ed die Tür wieder und legte sich wieder hin. Doch dieses Mal lag er noch lange wach, bevor er in einen unruhigen Schlaf fiel.

„Eins, zwei, drei, vier, Eckstein. Alles muss versteckt sein!“ Ed wurde von einem Singsang geweckt, welcher ihn an seine Kindheit erinnerte. Träumte er wieder? Ed war sich nicht sicher. Da war es wieder: „Eins, zwei, drei, vier, Eckstein. Alles muss versteckt sein!“

Es kam aus der Ecke des Raumes. Dort saß jemand unter einem Betttuch versteckt. Ed konnte das weiße Laken im Mondlicht schimmern sehen.

„Du hast dich immer vor mir versteckt, Ed! Wann warst du für mich da? Nie!“ das war die Stimme von Ed’s Schwester, wie er sie vom Telefon kannte.

„Nie hast du dich um mich gekümmert!“ sie riss das Laken von sich herunter und Ed sah eine offenbar wahnsinnige Frau. Die langen, fettigen Haare hingen ihr in Strähnen ins Gesicht. Die Augen waren nach innen verdreht, so dass Ed nur das Weiße darin sehen konnte. Ihr Mund war zu einer zahnlosen Höhle verfallen und die nackten Beine waren nur von Haut überzogene Knochen.

‚So muss sie kurz vor ihrem Tod ausgesehen haben!’ dachte Ed von Grauen erfüllt. Die Gestalt stand auf und ging auf Ed zu. Dieser drehte sich um und begann zu laufen, so schnell er konnte. Die Haustür, die sich eben noch wenige Meter rechts von ihm befunden hatte, war verschwunden und der Raum endlos gewachsen. Ed konnte keine Wand erkennen, obwohl er seinen Schlafsack nur wenige Zentimeter von einer Außenwand platziert hatte. Jetzt lag dieser mitten im Raum und Ed rannte voller Panik ins Nichts. Endlos führten ihn die knarrenden Dielen ins Nirgendwo und der Atem seines ihn verfolgenden Alptraums trieb ihn immer weiter an. Er hatte das Gefühl schon lange verloren, wie lange er rannte, doch irgendwann ließ er sich erschöpft fallen. Sein Verfolger stürzte sich augenblicklich über ihn und starrte ihn mit seinen verdrehten Augen ins Gesicht. Ed kniff die Augen zusammen, er wusste, er könnte den Anblick nicht ertragen, ohne nicht sofort durchzudrehen.

„Jetzt werde ich mich rächen!“ flüsterte das Ding, welches vorgab, seine Schwester zu sein, mit stinkendem Atem in sein Ohr.

„Du bist nicht das, was du vorgibst zu sein. Du bist nur eine Gruselgeschichte, ein Kinderschreck.“ Mit verzweifeltem Mut schrie Ed dem Ding seine schwindende Überzeugung entgegen.

„N E I N!!!!“ brüllte das Ding und ließ von Ed ab. Es stellte sich breitbeinig über ihn und im nächsten Moment bog es einen Rücken nach hinten, bis der Kopf den Boden berührte. Ed hörte die Rippen brechen. Angewidert sah er dem Schauspiel zu. Ein weiteres Knacken fuhr aus dem Ding und die Rippen durchbrachen den Brustkorb und starrten blind in die Höhe. Schreiend rannte dieses Etwas in seiner verdrehten Haltung davon und hinterließ Ed in der Dunkelheit, welcher sich ausgiebig übergab.

Nachdem er sich wieder etwas beruhigt hatte, legte er sich wieder in seinen Schlafsack, welchen er fast auch noch voll gekotzt hätte. Doch an Schlaf konnte Ed jetzt nicht mehr denken. Er hatte Angst, wieder einzuschlafen und er hatte Angst, die trügerische Sicherheit seines Nachtlagers zu verlassen. Er fühlte sich wie der kleine Junge von damals, als ihm Pipp entkam. Damals lag er auch lange wach und er hatte Angst, Pipp könnte als Geist wieder kommen und sich an ihm rächen. Doch die Geister von dieser Nacht machten Ed noch viel mehr Angst, weil sie real schienen. Er starrte zur Decke und erwartete sehnsüchtig den Sonnenaufgang. Bei Tag würde er sicherlich über seine kindische Angst lachen, aber im Moment wollte er einfach die Nacht hinter sich bringen. Er wusste nicht, wie spät es war, Ed hatte gewöhnlich nie eine Uhr bei sich. Jetzt bereute er seine Zeitlosigkeit, er hätte gern gewusst, wie lange die Sonne noch auf sich warten ließ. Mit diesen Gedanken überwältigte ihn abermals der Schlaf. Von unruhigen Träumen aus seiner Kindheit gepeinigt erwachte Ed aber bald wieder. Im Halbschlaf war Ed sich nicht sicher, ob es seine Träume waren, die ihn weckten, aber ein unheimliches Grollen machte ihn endgültig munter. Der Boden unter ihm begann zu beben und er spürte das ganze Haus vibrieren. Die Wände knackten unheilvoll und er sah in der Treppe einen großen Riss, durch den ein helles Licht schien. Plötzlich riss auch die Wand rundherum unter einem gequälten Krächzen auf und in seinen Schlafraum ergoss sich aus diesem Riss eine rote Flüssigkeit, welche Ed nur zu sehr an Blut erinnerte. Schnell stand er knietief in der Brühe, welche entsetzlich stank. Das Licht aus der Treppe erlosch wieder und aus dem Riss sahen ihn tausende Augen gierig an. Schmatzende und grunzende Geräusche drangen an sein Ohr und nackte Angst und Panik beherrschte sein Denken.

„Raus! Ich muss hier raus!“ sagte er zu der Treppe hin und er sah, wie etwas sich daran machte, aus dem Spalt zu klettern. Ed war in keinster Weise daran interessiert, mit dem Wesen aus der Treppe Freundschaft zu schließen. Ihm fiel die Tür wieder ein, welche diese Nacht schon einmal verschlossen war . Obwohl er sich sicher war, dass er sich das nur eingebildet hatte, wollte er sein Glück nicht herausfordern. Nach wenigen Schritten in die Richtung, in welcher er die Tür vermutete, machte Ed kehrt und sprang mit allem ihm noch zur Verfügung stehenden Mut dahin, wo er am Abend ein Fenster gesehen hatte. Das Fenster war verschwunden und Ed stand wieder mitten im Raum und trotzdem – als er zum Sprung ansetzte, spürte er, wie Glas sein Gesicht zerschnitt und tausende Scherben um ihn herum auf den Rasen prasselten.

In Erwartung eines Überfalls blieb Ed liegen, doch nichts desgleichen geschah.

Die Morgensonne verwöhnte ihn mit ihrer angenehmen Wärme, obwohl im Haus eben noch Nacht zu sein schien. Langsam stand Ed auf. Er hatte es geschafft. Die Nacht war tatsächlich vorbei. Er durfte sein Erbe antreten.

Nach einem kräftigen Frühstück, welches er sich in einer Bar besorgt hatte, macht Ed sich daran, ein Abrissunternehmen zu beauftragen, die dieses Haus schnellstmöglich entfernen sollten, damit Ed etwas Neues, weniger bösartiges entstehen lassen konnte…

Wir bedanken uns ganz herzlich bei den Sponsoren der Aktion Lieblingsmonster:
Aktion Lieblingsmonster


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