Dystopie des Kinos - Wenn SMS kinosalonfähig werden

23.08.2014 - 08:50 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
Dystopie des Kinos
VW/moviepilot
Dystopie des Kinos
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Bullet Screen heißt nach 3D, IMAX und HFR die neueste "Kinorevolution". Made in China. Per SMS können Zuschauer eigene Kommentare auf die Leinwand projizieren und damit der Kinoknigge endgültig den Todesstoß versetzen.

Was wie eine Erfindung der Wachowskis klingt, entpuppt sich als ernst gemeinter aber für Cineasten kaum ernst zunehmender Beitrag für die Kinokultur. Bullet Screen  ermöglicht den Kinozuschauern ein Austausch per SMS auf der Leinwand - während der Film läuft! Den Gedanken und Daddeldaumen des Publikums sind somit keine Grenzen mehr gesetzt. Vor allem Filmemacher, die die Aufmerksamkeit der Zuschauer nicht zu fokussieren wissen, sollten sich spätestens jetzt nochmals hinter das Drehbuch klemmen. Besonders Blockbuster könnten sehr schnell zum Spottobjekt verkommen. Eigentlich trauert ein Teil von mir der verpassten Gelegenheit hinterher, diese Technik bei Man of Steel anzuwenden - aber nur bis ich mir vor Augen führe, welch Gräueltat es darstellt und das selbst die fliegende Missgeburt ein solches Schicksal nicht verdient hätte.

Soziales Experiment am Kinozuschauer
Der Name des Trends ist dabei Programm. Bei Screenings mit Bullet Screen Erweiterung überziehen nicht selten Dutzende Textnachrichten die Leinwand - wie Kanonenkugeln. Dass auf diese Weise vom ursprünglichen Filmbild nicht mehr viel übrig bleibt, versteht sich von selbst. Spiegel Online  spricht von einem "radikal verändertem Filmerleben". Die Ursprungsidee stammt aus Japan, wo das Portal Nicodou seit Jahren ermöglicht, Textnachrichten auf Videos darzustellen. Mehrere chinesische Kinos testeten die Technik die letzten Monate mit Erfolg, selbst 3D-Filme wie das chinesische Romantikdrama Tiny Times, blieben nicht verschont. Dessen Vertrieb Le Vision Pictures setzt bewusst auf Bullet Screen als soziales Experiment um es unter jungen Leuten zu verbreiten. Mit anderen Worten: Es gibt keine miesen Filme, nur miese Verkäufer. Das IMDB Rating  des Films von 2.9 spricht für sich. 

Der Grund für die große Begeisterung gerade bei der chinesischen Jugend dürfte in der Aufhebung der Kino typischen Passivität liegen. Befreit von antiquierten Konventionen, kann die junge Generation ihren veränderte Handmuskulatur endlich auch im Kino voll ausnutzen. Was das bedeutet, kann jeden Tag in U-Bahnen und Bussen beobachtet werden: In Rekordtempo und -menge getippte Textnachrichten. Auf Spielfilmlänge hochgerechnet und mit einem dreistelligen, SMS-affinen Kinopublikum multipliziert, kommen wir auf ein eindeutiges Ergebnis: Die Internettrolle bekommen einen neuen Spielplatz und können im Kino dort weitermachen wo sie in den Kommentarfeldern der Sozialen Netzwerken aufgehört hatten. Wo sich "Edward4eva1998" mit "Keule666" und "Species8473" ihren Kleinkrieg um Missgunst, Eitelkeit und Katzenvideos weiter austragen können. 

Bullet Screen wird als Social Event verkauft. Public Viewing für sozial Unterentwickelte oder für "Mit iPhone verstrahlte Muttermilch"-Aufgezogene? Aber natürlich, auch andere Typen von Kinogänger könnten mit Bullet Screen zeitweilig ihren Spaß haben. Eine Spoilerbombe zur rechten Zeit kann viel Freude bereiten. Dass chinesische Filmemacherverbände nicht sonderlich erfreut ob solcher Entwicklungen sind, überrascht wenig. "Wenn die Bullet Screens sich verbreiten, sollten zuerst Drehbuchautoren und Regisseure um Einverständnis gebeten werden" so ihre Trotzreaktion , die ebenso naiv wie utopisch anmutet. 

Deutsche Kinoverfehlungen
Dass dieser Trend früher als später zu uns herüberschwappen könnte, muss vermutlich nicht befürchtet werden. Im medial konservativen und Trends hinterher rennenden Deutschland zu wohnen mag seine Nachteile haben - in diesem speziellen Fall dürften wir uns aber ausnahmsweise glücklich schätzen. Aber wer sich nun in Sicherheit wähnt, vergisst einen anderen, vielleicht noch heimtückischeren Trend, der seit geraumer Zeit Deutschland heimsucht und gerade in diesen Tagen seine Krallen so tief wie noch nie unser Fleisch trieb: das 3D-Kino.

"Jeder zweite Kinobesucher hat im Jahr 2013 einen 3D-Film gesehen. Noch nie wurden in Deutschland so viele Tickets für 3D-Vorstellungen gelöst, zudem wurde der höchste Umsatz erzielt, seitdem die 3D-Einspielergebnisse einzeln ausgewiesen werden" (Quelle ), so lautet das Fazit einer neuen Studie der deutschen Filmförderungsanstalt . 22% aller verkauften Kinotickets 2013 in Deutschland stammten von 3D-Vorstellungen. 3D-Filme erzielten letztes Jahr 289 Mio. Euro Umsatz, das macht ein Plus von 8% gegenüber 2012. Der totale Jahresumsatz teilen sich 2D und 3D mit 72% zu 28%. Last but not least stiegen die  3D-Eintrittspreise um 2% auf durchschnittlich 10,29 Euro. Und das in einer Zeit, in der die 3D-Blase in anderen Ländern - allen voran den USA - längst geplatzt ist.

Also, so sehr es mich vor pubertären, Tippfehler verseuchten SMS auf Leinwand auch graust, so erschreckt mich unsere eigenen Kinorealität weitaus mehr. Für das tippfreudige Kinopublikum in China und Japan gibt es ohnehin nur eine Antwort. Diese VW-Aktion , die die alte Botschaft "Tod durch SMS am Steuer" auf eine bestechend neue Art serviert. Was die Aktion verschweigt: Mit SMS im Kino lebt es sich auch nicht unbedingt länger . Soviel zum Thema "radikal verändertes Filmerleben"...

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