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Fluchtversuch

11.11.2017 - 09:00 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
Mein liebster Kinomoment
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Mein liebster Kinomoment
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Dieser Artikel ist ein Community-Beitrag, der im Rahmen unseres Schreibwettbewerbs Mein liebster Kinomoment entstanden ist.

Ich renne. Ich fliehe. Mein Herz trommelt wie verrückt gegen die Wand meiner Brust. An meinen Augen wirbeln Fetzen von Bäumen, Blättern, wilden Tieren vorbei, die sonst nur graue Hochhäuserfassaden filtern. Fernes, aggressives Geschrei dringt an meine Ohren, die sonst nur Verkehrslärm und Radiomusik gewohnt sind. In der Hand, die vor ein paar Stunden noch eine Computermaus fest gehalten hat, sitzt nun ein gut geschärftes Tomahawk. Statt den blanken, harten Asphalt einer Großstadt unter mir zu spüren, sinken meine nackten Füße mit jedem Schritt kurz in den schlammigen Boden ein. Während meine Augen den bisherigen Tag trübe vor sich hinstarrten und jeder Augenaufschlag zu einem kräftezehrenden Gesichts-Sit-Up verkam, sind sie nun weit aufgerissen vor Angst und Aufregung.

Mit jedem Schritt sauge ich wild hechelnd die schwül-drückende aber frische Luft tief in die Lungen ein, welche sonst nur von Passivrauch und Smog bevölkert wird. An meinem Körper klafft eine tiefe blutende Wunde. Sonst ist die größte Gefahr für mich selbst das Küchenmesser in meinen Händen, während ich eine Zwiebel schneide. Jetzt aber werde ich gejagt und mich hat es schwer erwischt.

Mein ganzer Körper und mein kompletter Geist sind in Erregung, in Ekstase. Erwartungsfroh und wach. Adrenalin in meinem Körper, das ich den ganzen Tag vermisste. Der Regen prasselt auf meinen nackten Oberkörper, an dem soeben noch ein T-Shirt, Sweatshirt, Jacke und Schal klebte. Statt ordentlichst verpackt und behütet, renne ich nur mit einem Lendenschurz bedeckt durch den wilden, rohen Dschungel. Statt meinem süßen Stubentiger schaut mir ein gefährlicher Jaguar plötzlich mitten ins Gesicht. Mein mit Muskeln übersäter Körper spannt sich an. Jede Sehne, jeder Strang ist sichtbar, wo eigentlich gut gezüchtete Fettpölsterchen sitzen. Ich stehe plötzlich still und regungslos da. Die Verfolger sitzen mir weiter im Nacken. Der Jaguar brüllt mich an und Speichelfetzen fliegen aus seinem Maul in mein Gesicht. Flüchte ich vor ihm? Versuche ich ihm meinen Tomahawk in den Körper zu rammen? Schwierige Entscheidungen, die ich den ganzen Tag treffen musste werden mir hier und jetzt einfach abgenommen. Ich renne. Ich fliehe.

Meistens sitze ich fast den ganzen Tag. Aus der Couch in die Bahn. Von der Bahn in den Bürostuhl. Und von dort wieder über die Bahn in die Couch. Jetzt aber renne ich abermals wie Usain Bolt auf neuen Weltrekordkurs. Ich renne und renne bis ich nicht mehr kann. Völlig fertig und total erschöpft lasse ich mich fallen. Das Licht geht langsam wieder an. Der Dschungel verschwindet. Ich taste meinen Körper ab, ich bin nicht verwundet. Ich ziehe mir meine Jacke an und binde mir meinen Schal um. Ich stehe auf. Die letzten Stunden war ich gebannt und habe mich kaum bewegt. Und dennoch fühle ich mich, als wäre ich gerannt. Geflohen. Und entkommen!

***

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