Mit In die Sonne schauen ist ein großes Generationen-Epos in den Kinos gelaufen. Für viele ist die deutsche Oscar-Hoffnung jetzt schon einer der besten Filme des Jahres. In diesem Artikel wollen wir offene Fragen klären, die euch nach dem Kinobesuch vielleicht noch beschäftigen. Achtung, es folgen Spoiler!
Auf einem Hof in der Altmark (im Norden von Sachsen-Anhalt) entfalten sich in vier Zeitebenen über fast 100 Jahre hinweg verschiedene Frauenschicksale. Als filmisches Panorama über Zeit und Raum hinweg verschwimmen die vier Epochen immer wieder und sollten laut Regisseurin Mascha Schilinski beim Schauen eher gefühlt als verstanden werden. Wer trotzdem etwas Klarheit in das Gesehene bringen will, bekommt hier Erklärungen zu folgenden Punkten:
- 1. Die Zeitebenen: Wann spielen die einzelnen Geschichten?
- 2. Die Figurenbeziehungen: Wie passen die Personen und Familien über die Epochen hinweg zusammen?
- 3. Das Ende: Was bedeutet die letzte Szene des Films?
1. In die Sonne schauen: Die vier Zeitebenen und Epochen erklärt
In die Sonne schauen bietet im Film selbst keine Jahreszahlen als Anker und macht die Zeitsprünge auch im Bild nicht deutlich. Durch Pressematerial und Aussagen von Regisseurin Mascha Schilinski und Drehbuchautorin Louise Peter lässt sich die Grundstruktur der Epochen aber leicht nachvollziehen. Zwar gibt es keine klassischen Hauptfiguren, weil immer wieder auch andere zu Wort kommen. Dennoch lässt sich die Erzählung an vier Personen gut festmachen.
1910er Jahre: Alma
Kurz vor dem Ersten Weltkrieg lebt die kleine Alma (Hanna Heckt) auf dem bereits erwähnten, abgeschiedenen Vierseitenhof in der Altmark. Mit ihren Geschwistern spielt sie Streiche und ist fasziniert von der Totenfotografie. Durch den Tod der Großmutter entdeckt sie auf einem Foto, dass sie einst eine ältere und mittlerweile verstorbene Schwester hatte, die ihr ähnlich sah.
Die Zeit prägt das Leben auf dem Hof: Almas Bruder Fritz (Filip Schnack) hat mit seinen Eltern (Susanne Wuest und Gode Benedix) einen "Arbeitsunfall" in der Scheune, damit er bei der Musterung nicht zum Krieg eingezogen wird. Trudi (Luzia Oppermann), die Magd des Haushalts, wurde sterilisiert. Nachdem Männer über ihr weiteres Leben entscheiden, begeht Almas ältere Schwester Lia (Greta Krämer) Selbstmord, indem sie sich vom Heuwagen fallen lässt.
1940er Jahre: Erika
Erika (Lea Drinda) lebt zur Zeit des Zweiten Weltkriegs auf dem Hof. Sie hat Geschwister und ist fasziniert von ihrem einbeinigen Onkel (Martin Rother). Ihr Vater schlägt Erika und sie vernachlässigt die Arbeit auf dem Gehöft. Als der Krieg endet, geht Erika zusammen mit anderen Frauen mit Steinen im Rucksack in den Fluss, um sich zu ertränken – aus Angst vor der vorrückenden Roten Armee und der damit drohenden Vergewaltigung durch Sowjetsoldaten.
1980er Jahre: Angelika
Die selbstbewusste Angelika (Lena Urzendowsky) lebt in DDR-Zeiten auf dem Hof. Ihre Eltern (Claudia Geisler-Bading und Andreas Anke) halten sie für eine aufgeschlossene, fröhliche Jugendliche, die mit ihrem Onkel Uwe (Konstantin Lindhorst) und dessen Sohn Rainer (Florian Geißelmann) das Schwimmen trainiert. Angelika hat aber auch düstere Momente, in denen sie sich vorstellt, sich im Feld von einer Erntemaschine überfahren zu lassen. Nach einem Fest mit vielen Gästen samt Spielen wie Aal-Fischen kommt heraus, dass im Zuge von Angelika erwachender Sexualität mehr zwischen ihr und Onkel/Trainer Uwe vorgefallen ist. Zudem hegt Rainer, ihr Cousin, Gefühle für sie. Beim Polaroid-Familienfoto flüchtet Angelika aus dem Bild und wird danach nie wieder gesehen.
2020er Jahre: Lenka
Lenka (Laeni Geiseler) zieht in der Gegenwart mit ihren Eltern (Luise Heyer und Lucas Prisor) und der kleinen Schwester Nelly (Zoë Baier) aus Berlin auf den verfallenen Vierseitenhof. Mutter und Vater wollen das Gehöft renovieren, zwischendurch geht es mit der Familie zum Baden an den Fluss. Außerdem freundet die Jugendliche sich mit der Nachbarstochter Kaya (Ninel Geiger) an, die vor Kurzem ihre Mutter verloren hat. Die Tragödie macht aber auch vor Lenkas Familie nicht halt: Nelly springt vom Heuboden und stirbt.
2. In die Sonne schauen: Welche Verbindungen und Beziehungen bestehen zwischen den Familien, Figuren und Epochen?
Die Erlebnisse und Schicksale der Familien überlappen immer wieder. Durch verbindende Elemente wie die Scheune, das Ertrinken oder Krücken schafft Mascha Schilinski einen Widerhall durch alle Zeiten. Zudem lotet sie das Phänomen aus, dass manche Menschen glauben, sich (in ihrem Körpergedächtnis) an die Erlebnisse ihrer Vorfahren zu erinnern. Wer im Film aufpasst, kann dank kurzer Anhaltspunkten darüber hinaus konkrete Brücken zwischen den Zeiten schlagen:
- 1910->1940: Der einbeinige Fritz ist das Bindeglied zwischen den 1910er und 1940er Jahren: Als Junge verliert er sein Bein beim elterlich nachgeholfenen Sturz von Heuboden, damit er als Einbeiniger nicht in den Krieg muss. Er ist also der ältere Bruder der kleinen Alma und später in einer älteren Version Erikas Onkel, dessen Schweiß sie im Bauchnabel ganz zu Beginn kostet. Eines von Almas Geschwisterkindern oder sogar Alma selbst hat also Erika zur Welt gebracht.
- 1940->1980: Einmal sagt Angelika, dass ihre Mutter nie von der Vergangenheit spricht, dass der einbeinige Onkel ihrer Mutter (Fritz) ihr aber erzählt habe, dass Erika sich zum Kriegsende im Fluss ertränkt hat. Erika war die Schwester Angelikas Mutter Irm, auch wenn sie als Geschwisterkind in den 40ern kaum eine Rolle spielte. Also ist Angelika Erikas Nichte. Nicht alle Frauen und Kinder starben beim Massensuizid im Fluss, manche krochen wieder ans Ufer, informiert uns eine körperlose junge Erzählerstimme aus der Ich-Perspektive: Das muss die junge Irm sein.
- 1980->2020: Die Verbindung der letzten zwei Zeitebenen ist am rätselhaftesten. Lenkas Familie zieht neu auf den Altmark-Hof und ist also aller Wahrscheinlichkeit nicht Teil der vorigen Alma/Erika/Angelika-Familie. Der Schlüssel könnte hier in der Nachbarstochter Kaya liegen, die zu Lenkas Freundin wird. Lenka hört in diesem Sommer immer wieder das Lieblingslied von Kayas an Lungenkrebs verstorbener Mutter. Dieser Song, Stranger (2015) der schwedischen Sängerin Anna von Hausswolff, hallt bereits in vorigen Zeitebenen wider. Doch wem er zugeordnet ist, bleibt schwer zu sagen. Ist Kayas Mutter vielleicht Angelika, die nach der Westflucht irgendwann in ihre Heimat zurückkehrte? Oder ist Kayas Vater Angelikas Cousin Rainer, der in der Altmark wohnen blieb, auch wenn die Familie den Hof irgendwann aufgab? Genauso gut kann die Zeiten-Brücke natürlich allein durch den Ort des Hofes geschlagen werden.
3. Das Ende von In die Sonne schauen erklärt
In einem Bilderreigen wie In die Sonne schauen sind viele Dinge unserer Interpretation überlassen. Letztendlich kann jeder nach dem Kinobesuch eigene Schlüsse ziehen. Schon bei den teils offenen Figurenschicksalen am Ende bleibt viel Spielraum:
Während Erika in den 1940ern mit ziemlicher Sicherheit im Fluss umkam, ist Angelikas Schicksal in den 1980ern längst nicht so sicher: Entweder hat sie wirklich, wie ihre Familie glaubt, nach Westdeutschland "rübergemacht" oder sie ist (wie ihre Vorfahrin) im Fluss ertrunken. Nachdem Angelikas Cousin sie mit ihrer sexuellen Begegnung (oder Vergewaltigung) mit Uwe konfrontiert, könnten ihre angedeutete Depressionen sie zum Selbstmord oder Ausbruch aus der Familienenge bewegt haben.
Auch die Motive für den Heuboden-Sprung der kleinen Nelly in den 2020ern bleiben offen: Litt das Mädchen an Depressionen oder war die Kleine einfach noch so sehr Kind, dass sie nur impulsiv ausprobieren wollte, was passieren würde, ohne die Konsequenzen voll abschätzen zu können? Parallel zu Angelikas Todesvorstellung vor dem Erntefahrzeug spielt auch Nelly vorher einmal im Kopf durch, wie sie im Fluss ertrinkt. In dieser Vision wird sie allerdings von ihrer Mutter gerettet. Wollte sie also gar nicht sterben?
Das Ende der 1910er-Zeitebene ist sogar noch mysteriöser: Bei der Feldarbeit beginnt Alma zu schweben, als sie ihrer Schwester hinterherläuft. Dass In die Sonne schauen mit seinem letzten Bild gänzlich ins Fantasy-Genre überwechselt, ist unwahrscheinlich. Vielmehr ist das Schweben wohl als Traum (ähnlich Angelikas und Nellys Kopfbildern) oder Metapher zu verstehen, die jeder für sich persönlich auf unterschiedliche Weisen auslegen darf.
Manche werden das "Entschweben" des Mädchens vielleicht als filmisches Bild für Almas Tod deuten. Doch es gibt auch andere Ansätze. Mascha Schilinski sagte gegenüber Weltexpresso über ihren Film: "Was alle Figuren verbindet, ist im Grunde die unbewusste Sehnsucht, einmal auf dieser Welt zu sein, ohne dass einem etwas vorausgegangen ist." Vielleicht ist das Abheben ja genau diese Traumerfüllung des eigenen Wegs im Bild des losgelösten Fliegens?
So philosophisch und schwer greifbar wie der Filmtitel In die Sonne schauen (oder auch sein internationales Äquivalent The Sound of Falling, also "Das Geräusch des Fallens"), entzieht sich das deutsche Generationen-Epos einer klaren Definition. Wie im Leben hat nicht alles eine eindeutige Erklärung. Zwischen der filmischen Verhandlung von weiblicher Lebensgier und Todessehnsucht sowie dem Balancieren zwischen historischer Erinnerung und persönlicher Wahrnehmung liegt die letztendliche Wahrheit am Ende eben wohl im Auge der Betrachtenden.
In die Sonne schauen läuft seit dem 28. August 2025 in den deutschen Kinos.