Ich habe den Verstand eines Kriminellen – Mit diesen Worten empfing mich Philippe Petit, als ich ihn das erste Mal traf. Dann zeigte er mir, wie er mit einer Ausgabe von People Magazine einen Menschen umbringen könne und bevor er ging, klaute er meine Brieftasche. Er war wirklich ein außergewöhnlicher Mensch mit einer besonderen Sicht auf die Welt. Nicht zuletzt deshalb, weil er sie schon aus Höhen und Perspektiven gesehen hatte wie nie ein Mensch zuvor.
Und seine Geschichte ist wirklich eine der ältesten Geschichten überhaupt. Die des Helden auf der Suche nach Herausforderungen und einem scheinbar unerreichbaren Ziel. Schon als jugendlicher Seiltänzer in Frankreich – noch vor dem tatsächlichen Bau des World Trade Centers – träumte er von dem waghalsigen Plan, ein Seil zwischen die Türme zu spannen und dann 417 Meter über der Erde zur Freude der Passanten darauf zu tanzen. Seine Vorhaben erschienen alle unmöglich und sein letzter Plan klang gar wie ein Todeswunsch. Aber eigentlich war es gerade umgekehrt – so wie es seine Freundin Annie in dem Film ausdrückt: Er wollte nicht weiterleben, wenn er diese Türme nicht bezwingen konnte … sie schienen extra für ihn gebaut worden zu sein.
Ursprünglich ging ich davon aus, einen Film über dieses sagenhafte Projekt zu drehen, ich hatte nicht damit gerechnet, dass daraus ein richtiges menschliches Drama werden würde, eine Komödie von Irrtümern, eine Liebesgeschichte, eine Geschichte über Freundschaft und ihre Grenzen, eine Satire über Autorität und eigenmächtige Regeln.
Der Reichtum dieser Erzählung entsteht durch Philippe selbst, durch seine unendlich große Fähigkeit zur Dramatisierung und seine Unfähigkeit, sich hinzusetzen und die Geschichte in Ruhe zu erzählen; stattdessen läuft er herum und wirkt dadurch viel natürlicher. Die Erinnerungen seines alten Freundes Jean-Louis Trintignant und seiner früheren Freundin Annie sind nicht weniger dramatisch und überraschend offen angesichts der Konflikte und Widerstände dieses Abenteuers. Andere Mitwirkende gaben eine ganze Reihe illegaler Aktionen zu und ihre große Sorge um Philippes Leben und ihr schwindendes Vertrauen in das Unternehmen. Aber diejenigen, die dann schließlich oben auf den Türmen mit dabei waren, stimmten mit seinem zuverlässigen Helfer Jean-François Quinque überein: Wir wussten alle, dass er fallen könnte … wir haben daran gedacht, aber wir haben es nie geglaubt.
Selbstverständlich ist der Film auch ein Spiegel New Yorks und der Vereinigten Staaten aus einer längst vergangenen Ära. Die Watergate-Affäre erreichte ihren Höhepunkt genau in der Woche, in der Philippe Petit zwischen den beiden Türmen balancierte; einen Tag nach seinem Abenteuer trat Präsident Nixon zurück. 1974 gab es in New York noch deutlich mehr Schmutz, mehr Gesetzlosigkeit und Gefahr. Man kann sich heutzutage kaum vorstellen, dass Polizisten, Richter und Politiker so reagieren würden wie 1974: Damals applaudierten sie Philippe zu seiner Heldentat!
Und noch weniger vorstellbar ist der Gedanke, dass eine Gruppe Französisch-sprechender Typen am John-F.-Kennedy Flughafen mit Gepäck durchkommt, in dem sich Werkzeug, Seile, Messer sowie Pfeil und Bogen befinden, die sich dann an einem so berühmten Gebäude New Yorks mit Kameras und gefälschten Ausweisen herumtreibt und nur auf die Möglichkeit wartet, sich unerlaubt Zutritt zu verschaffen – und damit auch noch ungestraft davonkommt. Aber – um noch einmal Jean-François Quinque zu zitieren: Es war vielleicht illegal … aber keinesfalls bösartig oder niederträchtig. Diesen Unterschied sollte man sich merken.
Quelle: Mit Material von Arsenal Filmverleih