Neulich saß ich mit guten Freunden in einer Pizzeria. Alles war großartig: Irgendwo in der Küche lagen unsere Pizzen in einem Ofen, im Hintergrund lief leise italienische Musik und wie so oft überbrückten wir die Wartezeit und den Hunger, indem wir uns über Filme unterhielten. Es hätte harmonischer nicht sein können. Doch dann ließ jemand die Bombe platzen: „Ich kann über Das Leben des Brian einfach nicht lachen und verstehe nicht, was immer alle damit haben“. Hastig wurden in der Runde Blicke untereinander ausgetauscht: Hier offenbarte sich uns ein größeres Sakrileg, als… nun ja, Life of Brian eben. Es brennt – Was tun?
Ich habe schon solche Situationen erlebt, die sehr, sehr hässlich ausgingen. Gerade Das Leben des Brian ist als eine der Lieblingskomödien der Deutschen ein Paradebeispiel für einen universell geliebten Klassiker. Wer den Film zitiert, erntet immer irgendwo ein Lächeln. Muss man sich jetzt schämen, wenn man ihn für überschätzt hält? Ich sage da eindeutig: Nein, selbstverständlich nicht. Monty Python sind doch gerade für ihren sehr britischen und sehr grotesken Humor bekannt: Dass da nicht jeder leicht einen Zugang zu finden wird, liegt völlig auf der Hand. Der Dead Parrot Sketch, der bekannteste Sketch der Komiker-Truppe, zeichnet sich dadurch aus, dass ihm jegliche Pointe fehlt. Nicht jeder kann darüber lachen. Und wenn man über eine Komödie partout nicht lachen kann, dann ist auch ein noch so negatives Urteil völlig legitim. Dennoch suggerierte die Situation im Pizzalokal etwas völlig Anderes: Dem Einen fiel es schwer, eine solche Außenseiter-Meinung überhaupt zu formulieren, die Anderen hätten am liebsten einen Sturm der Entrüstung niederprallen lassen. Warum sind wir so?
Der Mensch ist ein Homo sociologicus , wir beugen uns den Erwartungen unserer Gesellschaft. Ich möchte nicht in einen Diskurs über die soziologischen Modelle von Ralf Dahrendorf abdriften, das können Andere besser als ich. Eines lässt sich aber nicht abstreiten: Wir sind ein Gruppentier und kaum jemand befördert sich innerhalb seiner Gruppe gern freiwillig ins Abseits. Doch gerade, wenn es um die Rezeption von Filmen und anderer Medien geht, wird das Ganze ein wenig absurd. Einerseits wird niemand Meinungen und Geschmäckern einen persönlichen und individuellen Charakter abstreiten. Andererseits gehen wir oft von der Existenz eines Meinungsmainstreams aus und legen ein fast kanonisches Denken an den Tag, welche Filme denn als „gut“ und welche als „schlecht“ einzustufen sind. Außenseiter-Meinungen greifen unsere Vorstellungen von Gut und Böse an und niemand lässt sich gern in ein solches Weltbild reinreden. Und wenn man über Filme diskutiert, wird in unseren Köpfen aus „Ich finde Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels eigentlich gar nicht mal so übel“ im Eifer des Gefechts dann gerne mal „Ich finde Raubmord eigentlich gar nicht mal so schlimm“.
Kann man aber wirklich von einem Meinungsmainstream reden? Sicher gibt es zu allem eine dominierende Meinung, aber die kann von Umfeld zu Umfeld schnell mal variieren. Ich bin in einem recht nerdigen und popkulturbegeisterten sozialen Umfeld unterwegs, in dem The Dark Knight Rises fast einstimmig als mittelschwere Katastrophe wahrgenommen wird. Dann gibt es aber auch das allseits bekannte Web-Portal RottenTomatoes . Hier werden gerne mal Dinge durcheinander gebracht: RottenTomatoes gibt nicht wieder, für wie gut Kritiker einen Film befunden haben, sondern wie hoch der Prozentsatz an Kritikern ist, die einen Film für gut befunden haben. Der RottenTomatoes-Score eines Films sagt also absolut nichts darüber aus, für wie gut der Film individuell von der Fachpresse befunden wird. Im Falle von The Dark Knight Rises heißt das also nur, dass 88% der Kritiker den Film insgesamt für gut befunden haben. Sprich, mein Freundes- und Bekanntenkreis bewegt sich unter diesem Blickwinkel in einer eindeutigen Minderheit von 12%. Wenn jemand also auf einmal sagen sollte, dass er den Film ziemlich gut fände, wäre er sogar im Grunde genommen in einer Meinungshoheit. Dennoch würde er das in der Pizzeria vom Anfang vielleicht niemals zugeben.
Der Mainstream ist eine Ebene, die eigentlich nur in unseren Köpfen existiert. Es ist völlig in Ordnung, aus einem vorherrschenden Meinungsmuster herauszufallen. Meinungspluralität ist schließlich eine wichtige Grundfeste eines demokratischen Systems! Sich geschmacklich an einem Mainstream zu orientieren ist ein sinnloses Unterfangen, egal in welcher Form sich das manifestieren mag: Dazu zählt auch die bewusste und konsequente Abgrenzung. Einem Film keine Chance zu geben oder bewusst das Negative in ihm zu suchen, nur weil er sich gerade einer breiten Popularität erfreut, ist ein alberner Gedanke. Abweichende und kritische Meinungen sind wichtig. Doch wenn diese in elitärem Denken und Snobismus ausarten, wird ein fairer und gerechter Filmdiskurs nicht bereichert, sondern gehemmt, und gerade Cineasten stehen in ihrer Liebe zum Film in einer besonderen Verpflichtung, hier eine gewisse Contenance zu wahren.
Hier tut sich aber durchaus ein Problem auf. Hinter dem Medium Film steckt eine gewaltige Industrie und diese richtet sich in der Filmproduktion nach ihrer Wahrnehmung des Massengeschmacks. Natürlich besteht ein finanzielles wie künstlerisches Interesse daran, mit einem Film möglichst viele Menschen anzusprechen. Ob das Angebot hier die Nachfrage oder die Nachfrage das Angebot bestimmt, ist eine Streitfrage, die sich nicht einmal mehr stellt, denn am Ende des Tages sind es doch die Zuschauerscharen, die die Marktanalysten und Studiobosse in ihren Trends und Tropes bestätigen. Das macht eine Kritik am Massengeschmack unbedingt erforderlich, denn dieser prägt und bestimmt das Kino von morgen. Erst gestern erzählte mir jemand, wie deplatziert er sich damals gefühlt habe, als im Kino ein Trailer zu Hangover 2 lief und die Menge im Saal angefangen zu johlen habe. Auch ich habe da schon ähnliche Erfahrungen machen dürfen und bin damit sicher nicht allein. Und ich kann es auch absolut nachvollziehen, wenn sich da eine Wut auf das Massenpublikum entwickelt. Das macht ein pauschales Kollektiv-Verurteilen der Publikumsscharen allerdings nicht automatisch richtig.
Vor fünf Jahren wurde Avatar - Aufbruch nach Pandora zum größten Kassenerfolg aller Zeiten. Der Film wird heute noch vielfach kritisiert, weil der Stil über der Substanz steht, weil die Charaktere platt sind und die Handlung altgedient und abgekupfert ist und lediglich als Entschuldigung für ein rein visuelles Filmspektakel fungiert. Ich höre mit der Zeit immer seltener Leute von diesem Film schwärmen. Sollte man sich nun etwa dafür schämen, den Streifen damals als zahlender Kinogänger unterstützt und zum Erfolg des Films und des 3D-Kinos mit beigetragen zu haben? Avatar schaffte es, wenn auch primär durch das dargebotene visuelle Erlebnis, Millionen von Zuschauern in seinen Bann zu ziehen. Und auch wenn ich kein Freund des Films bin, kann ich jede Person nachvollziehen, die mir erzählt, wie begeistert sie von ihm damals gewesen ist. Sich von Effekten verblüffen zu lassen ist eine genuine Filmerfahrung, die für viele Menschen etwas Besonderes darstellt und dieses Erlebnis lässt sich keinem von ihnen mehr nehmen. Jeder setzt bei der Beurteilung eines Films seine Kriterien anders: Wir können die Kriteriensetzung der Anderen vielleicht anprangern oder ablehnen, aber den Anderen nicht generell das Urteilsvermögen absprechen. Wenn jemand Freude an einem Film entwickelt, dann ist das per se etwas Großartiges und niemand sollte sich dafür schämen müssen.
Was am Ende wirklich wichtig ist, ist dass man eine Meinung – egal welche! – auch für sich begründen kann. Ich halte Inglourious Basterds für gnadenlos überbewertet und habe zahlreiche Probleme mit diesem Film. Damit stoße ich sehr oft auf Unverständnis. Allerdings bin auch noch nie dafür angefahren worden: Wenn ich über den Film spreche, mache ich deutlich, was mich an ihm stört und bislang konnte das immer jeder nachvollziehen, ohne meine Meinung dabei automatisch teilen zu müssen. Dadurch haben sich zum Teil fantastische und hochinteressante Gespräche ergeben. Wenn das gelingt und einem fairen Meinungsaustausch Raum gelassen wird, dann ist ein Diskurs auch dann erfolgreich, wenn er zu keinem einstimmigen Ergebnis führt.
Als Student der Medienwissenschaften entwickelt man zwangsläufig einen kritischen und analytischen Blick auf alle Medien, die einem vorgesetzt werden. Das heißt nicht, dass ich an Filmen, Büchern, Liedern und Videospielen deswegen grundsätzlich keine Freude mehr empfinden kann. Ich weiß, dass meine Lieblingsfilme alle irgendwo ihre Mängel haben – In meiner Urteilsfindung wirken sie sich nur nicht so stark aus. Wenn ein Mittzwanziger sich von dem naiven und kindlichen Charme von Krieg der Sterne nicht mehr ergreifen lässt, dann kann ich das absolut nachvollziehen. Viele Leute halten die Filme für überbewertet und damit kann ich leben. Manchmal gehe ich darauf ein und versuche zu erklären, wie wichtig Star Wars meiner Ansicht nach gewesen ist und was seine Magie ausmacht. Manchmal lasse ich das auch bleiben. Wichtig ist nicht, dass man Filme abfeiert, sondern dass man ihnen eine Chance gibt. Ebenso wichtig ist aber auch, dass man sich gerade bei seinen Favoriten einer Kritik nicht verschließt. Ein blindes und stures Verteidigen seiner Lieblinge ist so unnötig wie unnütz. Wenn am Anfang von Star Wars der gelbe Lauftext über den Bildschirm läuft, freue ich mich allen mir bekannten Kritikpunkten zum Trotz immer noch wie ein kleines Kind. Ich weiß doch schließlich, was ich persönlich davon habe. An meiner Beziehung zum Film ändern sie (in diesem Fall) nichts.
Dass Guilty Pleasures zu einem Schule machenden Phänomen geworden sind, halte ich für eine großartige Entwicklung. Manche Leute sagen, dass sie gar keine Guilty Pleasures hätten, weil sie sich nicht schuldig fühlen, wenn sie Freude für etwas entwickeln. Das ist eine wunderbare Einstellung! Niemand sollte sich für seine Vorlieben und Präferenzen schämen müssen. Trotzdem schätze ich persönlich den Begriff „Guilty Pleasure“. Denn im Grunde besagt er doch, dass man sich der Mängel eines Werks bewusst ist, dass die Kritik durchaus zu Einem durchgedrungen ist. Das Guilty Pleasure ist das Outing eines reflektierenden Medienrezipienten: Ja, ich denke nach über das was ich sehe und ich weiß, dass es Fehler hat – Aber ich konsumiere es trotzdem und das ist auch gut so! Ist es fair, mit abwertendem Auge auf die Trash-Kultur zu blicken, weil Leute bewusst Medien konsumieren, von denen sie wissen, dass sie schlecht sind? Nein! Denn da setzen sich Menschen zusammen und zelebrieren gemeinsam einen Film wie Manos: The Hands of Fate und sie entwickeln Freude an einem Film, der nie mehr als genau das wollte: Sein Publikum unterhalten. Verlachte Filme bekommen so ihre Chance. Edward D. Wood Jr. und Tommy Wiseau und all die anderen missverstandenen Visionäre der Filmgeschichte: Das große Meisterwerk ist ihnen nie gelungen, aber gewonnen haben sie am Ende trotzdem.
Wie ist die Geschichte in der Pizzeria ausgegangen? Ich habe eingeräumt, dass der Humor von Monty Python nicht jeden ansprechen können wird und dass es im Grunde auch genau das ist, was ihn in seinem Wesen ausmacht. Ich denke, das haben alle Beteiligten akzeptieren können. Und als die Pizzen an den Tisch kamen und wir anfingen zu essen, war es als hätte sich das große Sakrileg niemals zugetragen. Denn es ist nie ein Sakrileg gewesen, nur eine abweichende Meinung unter Freunden – Wir haben ja alle unser Kreuz zu tragen. Und zwar durch die Tür hinaus, zur linken Reihe.