Heute wäre Claude Jade 60 Jahre alt geworden. Unser User Darbon, selbst Schauspieler, hat aus diesem Anlass eine Hommage an die Muse von François Truffaut verfasst:
60 wäre sie heute geworden, die ewige kleine Verlobte des französischen Kinos. Sie freute sich auf die Rollen der herrlichen alten Damen, die „unwürdigen“ vorzugsweise.
Ihr Lächeln ist so verzaubernd, ihre Anmut so rein, als Claude Jade 1968 – noch keine zwanzig – beginnt, die Filmwelt zu erleuchten. Ihr erster Auftritt in François Truffauts Baisers volés bleibt eine unsterbliche Erscheinung: Aus dem Dunkel der Nacht taucht sie auf, so unerwartet wie die Sonne anstelle des Mondes, kommt auf uns zu als schwebe sie, um für uns innezuhalten, hinter einer Glastür Antoine Doinel zuwinkend. Sie klopft an die Scheibe, hilflos andeutend, dass sie die Tür nicht öffnen kann, irritiert und schließlich lächelnd. Es scheint, als könne Claude Jade vielleicht doch die Leinwand verlassen und zu uns hinabsteigen wie es Jeff Daniels in Woody Allen s Purple Rose of Cairo tat.
Und noch heute ist es diese unfassbare Magie, wenn der unstete Antoine Doinel alias Jean-Pierre Léaud im Angesicht seines Spiegelbildes fiebrig prononciert: ‘Christine Darbon, Christine Darbon, Christine Darbon ’. Jene Christine Darbon, als die Claude Jade uns allen zeigt, wie man einen Zwieback bestreicht ohne ihn zu zerbrechen: ’Ich bringe dir alles bei, was ich kann, wie zum Beispiel diesen Zwiebacktrick und du bringst mir alles bei, was du kannst.’
Claude Jade ist nicht nur die beständige Liebe, die Verlobte, die zuerst betrogene und dann zurückgekehrte Ehefrau und die beständige Ex-Frau von Antoine Doinel, die ihre graziöse Zurückhaltung aus den Baisers volés n zwei Jahre später in Domicile conjugal rekapituliert: ‘Jetzt stellen Sie sich mal ’ne zwanzigjährige Jungfrau vor. Ich war ein wandelnder Anachronismus.’ So versucht sie auch immer wieder, dem Etikett der Christine zu entfliehen – durchaus oft gelingt ihr das, doch für die meisten blieb sie ewig ‘la petite fiancée du cinéma français’. Selbst der cinephile Daniel Cohn-Bendit kontaktiert sie 1986, um François Truffaut Helden wieder zu vereinen. In jenem Jahr spielt sie fürs Kino die ambivalente Alice in René Feret s L’ homme qui n’était pas là, jenseits dem Klischee des reinen Mädchens, gegen dass sie so lange aufbegehrte – die Schauspielerin, die 1970, jenem Jahr in dem sie als beliebteste Jungschauspielerin Frankreichs ausgezeichnet wurde, sagte: ’Reden Sie mir nicht von Stars, von Namen in Großbuchstaben an den Kinofassaden. Das Wort Schauspielerin ist edler als das Wort Star. Finden Sie nicht? ’
Die Gaben der Feen
Ihre Diskretion, ihre Zurückhaltung, ihre nie kokettierende und umso reiner strahlende Schönheit, das sind die Gaben der Feen, wie diese Blicke der Verwunderung über das Leben und die Liebe. Die am 8. Oktober 1948 geborene Claude Marcelle Jorré entstammt einer protestantischen, musischen Familie aus Dijon. Ihre Eltern, Universitätsprofessoren, fördern den Traum ihrer Tochter. Mit 15 nimmt sie bereits Kurse am Conservatoire d’Art Dramatique und tritt 1964 als Molières Agnès an der Comédie de Bourgogne auf. Zwei Jahre später erhält sie den Prix de Comédie und geht nach Paris, wo sie gemeinsam mit Gérard Depardieu Schülerin Jean-Laurent Cochets wird. Cochet empfiehlt sie Sacha Pitoëff, bei dem sie am Théatre Moderne die Frida in Pirandellos ‘Heinrich IV’ spielt. Sie verkörpert bereits in der Fernsehserie Les oiseaux rares eine Hauptrolle als seltener Vogel Sylvie, hat ihren Namen in Jade geändert und erträumt sich eine schöne Theaterkarriere.
Dann kommt François Truffaut in die Generalprobe, ist ‘absolut hingerissen von ihrer Schönheit, ihrem Wesen, ihrer Freundlichkeit und ihrer Lebensfreude’ und gibt ihr kurz darauf die Rolle der Christine Darbon in ‘Baisers volés’. Truffaut und die 17 Jahre jüngere Claude Jade schreiten im Februar 1968 während der Dreharbeiten an der Spitze der Demonstrationen für Henri Langlois und die Cinématheque Française, der dreihundert Filmschaffende folgen. François Truffaut bittet die Eltern um die Hand ihrer Tochter und nimmt kurz vor der Hochzeit – mitten im Pariser Mai – feige Abstand von seinen Absichten. Die Verletzung wird anhalten, doch die Arbeit und eine tiefe Freundschaft verbindet die beiden weiterhin, mit einer innigen Korrespondenz und mit weiteren Filmen. Mit Domicile conjugal, entstanden eineinhalb Jahre nach dem privaten Rückzieher François Truffaut s, in dem sie sich nach Antoines Seitensprung mit einer nie lächelnden Japanerin als blonde Geisha maskiert und ihr eine Träne über die Maquillage rollt – und uns für unser Lachen schämen lässt – ist jener Film, in dem sie so überzeugend erklärt, ein Kunstwerk könne keine Abrechnung sein. Und mit L’amour en fuite, in dem sie Doinel und uns allen ihre Freundschaft anbietet.
Hitchcock, Molinaro, Jutkewitsch, Mocky
Alfred Hitchcock holt sie für die Rolle der Agententochter Michèle Picard in Topas nach Hollywood. Hitchcock fantasiert der Presse von ‘Look’ vor, Claude Jade sei ‘eine ruhige junge Dame, doch für ihr Benehmen auf dem Rücksitz eines Taxis würde ich keine Garantie übernehmen’. Die Arbeit mit Alfred Hitchcock, bei der ihre anfangs so unbeschwerte Journalistenbraut schließlich Philippe Noiret in der Rolle eines ermordeten Spions auf dem Dach eines Autos findet, blieb ein schönes Souvenir. Sie verzichtet dennoch auf den exclusiven Sieben-Jahres-Vertrag, um in ihrer Heimat arbeiten zu können. In Frankreich folgen nun zahlreiche schöne Aufgaben. Da ist vor allem die Manette in Edouard Molinaro s Historienkomödie Mon oncle Benjamin. Claude Jade ist hinreißend als Gastwirtstochter, die Jacques Brel s Benjamin nur gegen einen Ehevertrag ihre Blüte geben will und dann auch ohne Kontrakt glücklich mit ihm wird. In einer berührenden Szene liegt sie nach einem heftigen Streit in den Armen Brels und flüstert: ‘Wenn es der Himmel erlaubte, dir ewig so nah zu sein, ich würde auf jede andere Ewigkeit verzichten.’ Der Progress-Filmverleih schwärmte damals über die adelsfeindliche Komödie: „__Jacques Brel__ und – nicht zu vergessen! – Claude Jade haben mehr Sonne auf unsere Erde gebracht als alle längst verblichenen Sonnenkönige zusammen.“
In Le bateau sur l’ herbe, dem poetischen Testament der Freundschaft von Gérard Brach und Roman Polanski, bricht sie 1970 erstmals mit dem Image der sanften, reinen Heldin, die hier zwei Freunde entzweit – mit Erfolg. Dennoch bleiben es die ewig jungen Mädchen, in denen sie auch in Deutschland zu sehen ist: ob als tapfere Waise Linda in Gejagt wie Monte Christo, die dem dunklen Charme eines zwielichtigen Museumsdirektors erliegende Cécile in Der Zeuge, als in einen Priester verliebte Françoise in Der Abbé und die Liebe , Annie Girardot s renitente und dann loyale Tochter Laura in Kerzenlicht oder als süße alleinerziehende Dominique in Ein Pauker zum Verlieben. Unsympathische Rollen wie die Pflegerin Claire in Trautes Heim bleiben selten, raffinierte Mörderinnen („Malaventure“, „Le malin plaisir“) dem deutschen Publikum vorenthalten. Claude Jade spielt in ihrer rund 80 Kino- und TV-Filme umfassenden Karriere auch in belgischen und italienischen Filmen, in Japan bei Kei Kumai, in der Sowjetunion bei Altmeister Sergej Jutkewitsch die Revolutionärin Inès Armand (Lenin in Paris und beim Regie-Duo Alow und Naumow die Terroristin Françoise (Teheran 43). Dank Anarcho-Regisseur Jean-Pierre Mocky bricht Claude Jade 1994 ein weiteres mal mit ihrem Rollentypus in der skurrilen Komödie Bonsoir: als verklemmte Lesbierin Caroline mit drolliger Freundin und erzprüder Erbtante, der schließlich dank einer List des Clochards Michel Serrault die Erbschaft gerettet wird.
Daneben findet sie auf der Flucht vor dem ‘kleinen Mädchen’ aus den ‘gestohlenen Küssen’ viele ‘schwer zu verteidigende Rollen’, wie sie ihre Arbeit im Fernsehen gern bezeichnete: Schach dem Roboter ist in Deutschland zum Kult avanciert – so wie in Frankreich L île aux trente cercueils ein Sechsteiler, der auf ihrer Dauerpräsenz beruht und von dem sich das deutsche Publikum – dank Arte – erstmals 1996 als ‘Die Insel der dreißig Tode’ fesseln lassen durfte und der am 16. Oktober 2008 als Miniserie “Die Insel der 30 Tode“ auf DVD auch in Deutschland erscheint.
Aus den letzten Jahren – nach zweijähriger Dauerpräsenz als Heldin der Serie Cap des Pins – bleiben uns ihre beeindruckenden Leistungen in den Fernsehkrimis ‘Das Geheimnis (La Crim)’ (2004) und ‘Wahr oder falsch (Groupe Flag)’ (2005). In letzterem spielte sie dann 57jährig eine 70jährige Exil-Russin, welche die Polizei als vermeintliche Geldfälscherin auf Trab hält. Eine „unwürdige“ alte Dame.
Als Ehrung ihrer Filmarbeit – parallel zu den vielen Theaterrollen – erhält sie 1998 der Titel des ‘Ritters der Ehrenlegion’, 2000 in West Palm Beach den ‘New Wave Award’ für ihre ‘Trend setzende Rolle in der Filmwelt’ und den ‘einzigartigen Stil, der Generationen von Schauspielerinnen geprägt hat’, zwei Jahre darauf den ‘Prix Réconnaissance du Cinéma’.
Eine Seltenheit im Milieu der Ellenbogen
Am 5. Dezember 2006 säumten unzählige Bouquets mit letzten Grüßen die Stufen des Pariser Tempels Oratoire du Louvre. ‘Claude Jade war die Inkarnation der Eleganz, der Einfachheit und des Charmes Frankreichs’ übersandte Frankreichs Kulturminister Renaud Donnedieu de Vabres letzte Grüße.
‘Sie war nie eifersüchtig, nie bitter, sie dachte immer zuerst an die anderen’, erinnert sich Jacques Rampal, Autor und Regisseur der letzten – auch verfilmten – Theaterproduktion mit Claude Jade, Célimène et le cardinal: ‘Sie Claude Jade hatte gerade einen Tumor im Auge entfernen lassen und spielte die aus Molières ’Menschenfeind’ adaptierte Célimène weiter – mit einer Augenprothese, enormem Talent, voller Schönheit und Lebensfreude. Rampal in seiner Abschiedsrede: ‘Ihr Leben endete auf der Bühne. Es endete in Schönheit, in einer bemerkenswerten Vorstellung. Es war der 8. August, es war gestern.’
Dieses Lächeln, das über Generationen hinweg die Sehnsucht berührt und beflügelt, bleibt.