Being Good lässt sich nicht auf eine Handlung
herunterbrechen, denn es stehen gleich drei verschiedene Handlungsstränge zur
Wahl, die jedoch alle unter einem Motto zusammenkommen: Missbrauch und Mobbing gegenüber
Kindern. Es ist schon erstaunlich, wie schnell sich in einem Wut und Zorn regen
kann, wenn man als Zuschauer mit bestimmten Bildern konfrontiert wird. Hier war
es gleich zu Beginn die alleinerziehende Mutter Masami (Machiko Ono), die ihrer
Tochter einen Pulli überstreift, um die blauen Flecken am Oberarm zu verdecken.
Es ist diese unterschwellige Wut, die sich hier anbahnt und schwer schlucken
lässt. Denn auch wenn man es nicht wahrhaben möchte: Es wird noch schlimmer.
Und doch vollzieht Being Good den Spagat, auf etwaige Meinungspolarisierung zu verzichten. Kinder schlagen und anderweitig zu missbrauchen ist ein klares Tabu. So viel steht fest und daran gibt es auch gar nichts zu rütteln. Dennoch verbietet sich das Drama, die Situation zu kommentieren und nur eine Meinung zuzulassen. Beide Seiten werden beleuchtet und es muss klar werden, dass es meist zwei Seiten gibt, die sich nicht einfach mit Schwarzweiß-Malerei erklären lassen. Auch wenn es schwerfällt, wenn man mit dem Leid der Kinder konfrontiert wird. Außerdem präsentiert sich Mipo O’s Werk nicht so schwerfällig, wie man es in Anbetracht der Thematik erwarten möchte. Man lacht, wenn man den noch jungen und idealistischen Lehrer Okano (Kengo Kôra) dabei beobachtet, wie seine Schüler gegen ihn rebellieren und den Klassenunterricht gehörig auf den Kopf stellen. Man schmunzelt, wenn Mutter und Tochter dieselben Schuhe tragen und sich stolz im Partnerlook präsentieren. Es sind diese kleinen Augenblicke der Freude, die die düsteren Wolken kurz zur Seite schieben und für eine angenehme Ausgeglichenheit in diesem doch sehr nüchternen Drama sorgen. Darstellerisch (v.a. die herzergreifenden Leistungen der Jungdarsteller!) und inszenatorisch ganz großes Kino. Tolles Tempo, beeindruckende Atmosphäre zwischen Heiterkeit und Düsternis sowie gekonntem Zusammenspiel dreier fast unabhängig voneinander agierenden Handlungssträngen! Ich habe die zweite Hälfte über durchgehend Rotz und Wasser geheult.
Weiter geht es mit dem Independentkino. Dort haben mich
besonders Good Stripes von Yukiko Sode, Dear Deer des diesjährigen Nippon
Visions Jury Award Gewinners Takeo Kikuchi, Ken and Kazu sowie Hakodate Coffee
mit dem Deutschen Tony Nakajima beeindruckt, der als erster Ausländer eine
Hauptrolle in einer japanischen Filmproduktion ergattern konnte. Aber der Reihe nach.
Good Stripes ist ein sehr intimes Portrait zweier junger Menschen, die aufgrund einer Schwangerschaft überlegen müssen, wie sie mit der Situation umgehen. Sollen sie sich trennen, oder wie es gesellschaftlich erwartet wird, heiraten? Es ist keine leichte Entscheidung, vor allem wenn man sich der Gefühle des jeweils anderen nicht klar ist. Soll man in den sauren Apfel beißen und die Situation gemeinsam durchstehen? Oder einen Schlussstrich ziehen? Regisseurin Sode lässt mit ihrer sehr engen Kameraführung permanent ein inniges Gefühl zum Gezeigten entstehen. Als wäre die Leinwand gar nicht wirklich da, lässt sie einfach die Kamera laufen (aufgrund des beschränkten 16mm Filmmaterials gab es auch nur sehr wenige Takes) und begleitet das vermeintliche Liebespaar auf ihrem Entscheidungsweg. Für die einen sicherlich vollkommen unspektakulär, lockt für die anderen sicher das authentische Gefühl, das nur von wenigen konstruiert wirkenden Erzählstrukturen unterbrochen wird.
Auch in Dear Deer
steht die Familie im Mittelpunkt des Geschehens, auch müssen die Kinder wieder Entscheidungen
treffen.
Als der Vater im Sterben liegt, treffen sich die drei Geschwister Yoshio, Akiko
und Fujio in ihrem Heimatdorf wieder. Um den familiären Betrieb unter Leitung
Fujios steht es schlecht, Yoshio wurde gerade aus einer psychiatrischen Anstalt
entlassen und Akiko steckt in einer Ehe mit einem erfolglosen Kerl und
demzufolge droht sie mit der Scheidung.
Es ist schon eine makabere Ausgangssituation, die das Damoklesschwert über der
Familie schweben lässt. Denn der Ursprung allen Übels ist… ein Reh.
Ja, ein Reh. Dear Deer braucht gefühlt eine halbe Ewigkeit, um in Fahrt zu
kommen. Die Geschichte kommt genauso schleppend in Gang, wie es ihr das laxe Treiben
des Dorfes gleichtut. Es herrscht Stagnation, das Dorf weigert sich, sich den
neuen Gegebenheiten anzupassen. Und so häuft sich eine Krise nach der anderen
an. Der eine wird trotz medikamentöser Behandlung irre (fantastisch bekloppt: Yôichirô Saitô), die andere will sich auf einen erfolgreichen Typen einlassen und der
Gutmensch Fujio (herrlich: Koji Kiryu) explodiert vor angestauter Wut. Das ist
der Moment, das ist die letzte halbe Stunde, in der alles raus muss. In der
sich sämtliche Konflikte zur denkbar unpassendsten Zeit entladen. Alles
kulminiert und wenn man glaubt, es kann nicht noch dicker kommen, dann hüpft ein
Reh durchs Bild. Herrlich grotesk und abgedreht, zynisch und bitterbös,
zeichnet Dear Deer ein trauriges Bild einer auseinandergelebten Familie.
Mit einem gänzlich eigenen Flow wartet das kleine
Feelgoodfilmchen Hakodate Coffee
auf. Die Geschichte dreht sich um den gescheiterten Schriftsteller Eiji (Masaya Kikawada), der in Hakodate auf Hokkaido einen eigenen Secondhand-Buchladen
eröffnen will, um so mit seiner gescheiterten Vergangenheit abzuschließen.
Natürlich läuft nicht alles so, wie er es sich erhofft und muss infolgedessen
mit seinen neuen Hausbewohnern zurechtkommen. Die sind zuweilen ziemlich eigen:
Eine Glaskünstlerin, ein Teddybärfabrikant und eine zurückgezogen lebende
Fotografin. Doch bald schon zeigen sie Eiji, wie anders die Zeit in Hakodate
verläuft und was wirklich wichtig ist im Leben.
Auch dieser Film wuselt so vor sich hin, hat kein wirkliches Ziel vor Augen,
verbreitet aber dennoch mit seinem ganz eigenen Tempo gute Laune. Am Ende
wartet natürlich ein absehbares Happy End, aber hier ist ohnehin der Weg das
Ziel. Und dieser Weg pendelt zwischen graziler Tragik und subtiler Komik so vor
sich hin. Irgendwie… hat mich der Film abgeholt.
Bewegen wir uns nun für den Moment mal fort von den ganzen Slice of Life- und/oder (Liebes-) Dramen, hin zu einer Perle des alternativen Gangsterfilms:
Ken and Kazu von
Hiroshi Shoji basiert auf dem gleichnamigen Kurzfilm von ebenjenem Regisseur und
bildet somit sein Spielfilmdebut.
Ken und Kazu sind zwei knallharte Gangster, die bisher noch jeden Drogendeal
über die Bühne gebracht haben. Die beiden mischen ohne Skrupel gegnerische
Bandenmitglieder auf und halten nur mit Hammer und Klappmesser ihr Revier
sauber. Während Kazu sich jedoch nach mehr Drogengeld sehnt, will Ken nur noch
aussteigen. Seine Freundin erwartet ein Kind und weil Ken ganz genau weiß, dass
seine Drogendealerkarriere kaum glücklich enden wird, versucht er vorzeitig die
Notbremse zu ziehen. Dumm nur, dass sein Kumpel bereits hinter dem Rücken
seines Bosses einen Deal mit dem Feind ausgehandelt hat und er nun als Komplize
mittendrin steckt.
Dieser Film ist ein ungeschliffener Rohdiamant. Wackelkamera, brutale
Gewaltexzesse ohne Schusswaffen – hier muss man sich noch im direkten Kontakt
die Hände schmutzig machen und Knochen eigenhändig brechen – und immer
mittendrin im Geschehen. Der kühle Blaufilter lässt das ganze dabei wieder so
artifiziell erscheinen, dass ich tatsächlich oft das Gefühl hatte, es hier eher
mit einem britischen denn japanischen Gangsterfilm zu tun zu haben. Dennoch wird hier
auf extrem persönliche Art und Weise eine Gangstergeschichte aufgezogen, die
ohne Schnörkel daherkommt und ohne zu viel Blut zu zeigen, mit gewaltvoller
Darstellung überzeugt. Auch die erwähnte Liebesgeschichte rund um Kens Freundin
bleibt rudimentärer Handlungsteil und erfüllt trotz geschickt eingeworfener emotionaler
Anteile einzig und allein den funktionalen Zweck, hier das Optimum an
Charakterentwicklung herauszuholen. Und Shinsuke Kato spielt den Ken bravourös. Wer auf straighte Genrekost steht, der muss hier beherzt zugreifen. Highlight.