«Circle» ist mehr ein Gedankenexperiment als ein Film. Die Geschichte ist in drei Sätzen erzählt; wenn man etwas verschachtelt, reicht ein Satz. Die Charaktere sind praktisch bedeutungslos. Die Inszenierung ist minimalistisch. Unterhaltung wird keine geboten. So gesehen ist dieser Film eine Beleidigung. Mich überrascht nicht, dass hier alle von extrem tiefen Netflix-Bewertungen schreiben, denn was Film- und Serienliebhaber im Allgemeinen gerne präsentiert erhalten, ist so ziemlich das Gegenteil davon, was «Circle» bietet. Die letzte Szene, in der die Kammer, in dem das Experiment spielt, verlassen wird, ist überflüssig. Mich hat sie gestört.

Abgesehen davon (also: abgesehen von allem) ist «Circle» ein richtig schöner, fieser Schlag nicht in die Magengrube, sondern in die Kronjuwelen. Zu Beginn wird nicht lange gefackelt, im Mittelteil wird es richtig dreckig und nach dem Ende wird man zugeben müssen, dass sich «Circle» durch eine Konsequenz und eine Kompromisslosigkeit auszeichnet, die man vielerorts vergebens sucht.

Wer nicht weiss, worum es geht: 50 Personen erwachen in einem Raum, jeder steht auf einem roten Kreis. Wer den Kreis verlässt, ist tot. Alle paar Sekunden bis Minuten beginnt ein akustischer Countdown. Ist er abgelaufen, wird wieder jemand vom Blitz getroffen. Nach ein paar Blitzschlägen merken die Teilnehmer an diesem netten Spiel, dass sie eine Person wählen können. Sie können sich nicht selbst wählen, niemand sieht, wen sie wählen (dieser extrem wichtige Punkt wird in den meisten Kommentaren hier unverständlicherweise unterschlagen). Wer die meisten Punkte kriegt, nun ja … *blitz*

Damit ist das Gedankenexperiment definiert: Wenn du sehr wenig Zeit hättest, wenn du davon ausgehen müsstest, dass nur eine einzige Person überleben wird, wenn du Todesurteile begünstigen könntest, ohne dass jemand etwas mitkriegen würde, was würdest du tun? Du kannst ein Rassist sein und stets die Schwarzen wählen. Niemand würde es bemerken. Du kannst die schwangere Frau oder das kleine Kind wählen. Niemand wüsste davon. Was, da ist ein Arschloch in der Mitte? Wähle doch ihn als Nächstes! Du tötest ja auch niemanden. Das macht die Kugel in der Mitte. Du wählst nur. Und hey, das ist ein demokratischer Prozess! Deine Stimme zählt gar nicht so extrem viel, sondern begünstigt bestenfalls nur ein gewisses Ergebnis. Du tötest niemanden und niemand erfährt, was du tust. Also tu es!

Ach, ich liebe es! Bei dieser Prämisse kann jeder der Charaktere sein volles Potential entfalten und einfach mal ein richtiges Arschloch sein. Shaun, ein 16 Jahre alter Junge, will lieber freiwillig drauf gehen, als bei einem Todesurteil mitzuwirken. Das wird so dankbar angenommen, dass man ihm einfach kurzerhand den Prozess macht, nur um zwei Minuten zu gewinnen. Wenn dann der Anwalt noch in der letzten Sekunde ruft: «Thank you, Scott!» – dann jubiliert der kleine Zyniker in mir. Ist jemand schwanger und befürchtet man, diese Person werde dadurch einen Vorteil haben, fragt man einfach, ob sie schon mal was von Empfängnisverhütung gehört habe. Zwischenzeitlich könnte man aber auch schon mal die Lesbe entsorgen, humanitärer Einsatz hin oder her. Der Soldat ist doch Soldat, um sein Leben für andere zu geben, nicht? Weg mit ihm! Da hat jemand Arschloch gesagt! Weg mit ihm! Oh, ein illegaler Einwanderer, wie schön! Der evangelikale Prediger macht übrigens artig mit, der alte Heuchler.

Jaja, wenn die Umstände mal nicht mehr stimmen, wird es mit den Gutmenschen nicht mehr weit her sein. Wenn es heisst: Du oder ich, werden wir all unsere Hemmungen über Bord werfen und dem kleinen Fiesling, der in jedem von uns wohnt, freien Lauf gewähren. Dann wird uns kein Argument zu schade sein, dann werden wir laut brüllend oder eben klammheimlich und still alle aus dem Weg schaffen, die ein Hindernis für unser Überleben darstellen werden. Nur die Kinder werden dann vielleicht nicht mit derselben Grausamkeit mitmachen. Der Rest von uns wird sich nur für die eigene Haut interessieren. Ich bin überzeugt, wenn wir gezwungen wären, solche Wahlen durchzuführen (demokratisch, heimlich – hm, da werden doch irgendwelche Assoziationen geweckt, aber welche nur?), hätten die wenigsten von uns irgendwelche Hemmungen. Ich bin überzeugt, irgendwann wird eine Zeit kommen, in der wir uns nicht mehr um political correctness bemühen, sondern unsern Mitmenschen eiskalt wegschaffen werden, wenn er uns im Weg ist. Man kann es nicht oft genug betonen, aber homo hominem lupus.

Das konsequente, kompromisslose Ende (die Szene ausserhalb der Kammer aussen vor gelassen) setzt dem Ganzen noch die Krone auf. Nur schon dafür haben die Macher meine Anerkennung erhalten. Kein Film für einen netten Feierabend, aber ein gut gemachter, kurzweiliger Gedankenanstoss und als solcher definitiv sehenswert.

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