„Bedauern Sie nicht. Erinnern Sie sich.“

Ich habe noch nie zu einem Film zwei Kritiken geschrieben. Ich habe aber auch noch nie einen Film fünfmal im Kino gesehen. Am liebsten würde ich mir ein Notizbuch mit in den Kinosaal nehmen, um alle Szenen herauszuschreiben, die mich sprachlos machen.

Dieser Kommentar enthält Spoiler

„Porträt einer jungen Frau in Flammen“ handelt von Kunst.
Der Film zeigt die Künstlerin. Der Film zeigt die Muse. Der Film zeigt das Erschaffen eines Kunstwerks. Der Film ist das Portrait zweier Frauen, die durch die Kunst – die sie letztendlich zusammen erschaffen – zusammenfinden. Doch bis es dazu kommt, wird studiert. Die Malerin studiert die Muse. Die Muse studiert die Malerin. Blicke werden ausgetauscht. Blicke treffen sich. „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ verbindet die Themen der Kunst und Liebe auf eine wundersame Weise. Denn gehören die beiden Dinge nicht untrennbar zusammen? Liebe ist doch eine Form der Kunst? Und kann Kunst ohne Liebe überhaupt entstehen?

Selten habe ich so intensive Blicke in einem Film gesehen. Die Gesichter, die Augen der Protagonistinnen sind immer wieder im Zentrum des Films. Augen, die die andere betrachten. Augen, die einem Pinsel, einem Stück Kreide, einem Stück Graphit folgen. Augen, die die Landschaft, die Freiheit betrachten. Augen, die sich der anderen öffnen. Augen, die sich der anderen verschließen.

Noémie Merlant und Adèle Haenel sind zusammen für den Europäischen Filmpreis nominiert. Sie zeigen die – für mich – beste schauspielerische Leistung, die ich seit langem im Kino bestaunen konnte. Noémie Merlant zeigt den Wandel ihrer Figur Marianne von der Malerin, die studiert, zur Malerin, die studiert wird. Adèle Haenels Héloïse wird vom Objekt, das gemalt wird, zum Subjekt, welches ihre Umgebung und schließlich sich selbst betrachten kann. In einer meiner (vielen) Lieblingsszenen des Films analysieren sich die beiden Frauen. Sie betrachten sich und studieren das Verhalten der jeweils anderen: die Atmung, die Mimik und die Gestik. Woran erkennt Marianne, dass Héloïse verlegen ist? Woran erkennt Héloïse, dass Marianne aufgewühlt ist? In diesem Moment sind die beiden Frauen gleich. Wie Héloïse es sagt, sie stehen an derselben Stelle. Die eine ist der anderen nicht intellektuell überlegen, beide Frauen sind sich ihren Ansichten und dem Verlauf ihrer Zukunft bewusst. Durch ihre Zusammenarbeit nähern sie sich dieser immer weiter an, finden in dem Weg dahin aber Erfüllung.

Die erzählte Geschichte wirkt wie ein Märchen, die Insel wie eine Utopie für die Frauen. Die Bilder haben schon fast etwas Magisches. Dieses Gefühl der Geschichte wird durch die Einbringung der Orpheus und Eurydike-Mythe noch verstärkt. Wie eine Vordeutung wird die Mythe in die Geschichte von Marianne und Héloïse eingebracht. Liebende, die auseinandergerissen werden. Die mit der Frage konfrontiert werden, was sie machen sollen, wenn sie sich trennen müssen. Wie behält man seine Liebe in Erinnerung? Ist es – im Moment des Abschieds – der Liebende in einem, der eine Entscheidung trifft, oder der Dichter? Oder gar die Geliebte?

Der Film behandelt viele große Themen: Liebe, Tod, Abtreibung und Abschied. Die Liebe nimmt den größten Platz ein. Sie beginnt durch kleinere Gesten und Blicke, bis sie zum Schluss beide Figuren zu erfüllen scheint. Die beiden Figuren gehen in diesem Gefühl auf, verbringen noch mehr, noch intensiver Zeit miteinander. Der Tod wird nur in wenigen Szenen thematisiert, dennoch ist er allgegenwärtig. Denn er ist der Grund, weshalb die Frauen zusammenfinden, weshalb Héloïse für die Heirat ausgewählt wird und das Portrait von ihr gemalt wird. Während für Héloïse durch die Arbeit an dem Portrait ein neues Leben beginnt, endet ein anderes. Dass Céline Sciamma eine Abtreibung in diesen Film einbringt, kann man unter dem Aspekt der Selbstbestimmtheit der Frauen in dieser Zeit verstehen. Zwar werden die Frauen durch ihr Geschlecht und ihre Position von der Gesellschaft in bestimmte Rollen und Zukünfte gedrängt, dennoch können sie in unterschiedlichen Situationen selbstbestimmt handeln. Und die Zofe Sophie trifft eine solche Entscheidung. Die Bedeutung dieser selbstbestimmten Handlung ist vor allem Héloïse bewusst. „Schauen Sie zu.“, fordert sie Marianne auf, als diese sich wegdrehen möchte.

Ein wichtiger Moment wird in diesem Film zweimal gezeigt, einmal als Handlung selbst und ein zweites Mal als festgehaltenes Bild, gemalt von Marianne. Zuerst ist da das erste Bild von Héloïse. Nur ein verschwommenes Abbild der stolzen Frau, welche Marianne nur aus der Erinnerung festhalten kann. Dann das Bild der schlafenden Héloïse. Bevor Marianne hierfür zur Kreide greift, hat sie Héloïse anders, echter studieren können. Sie hat mit ihr das erste Mal über die Liebe gesprochen. Das dritte Bild ist das der Abtreibung. „Schauen Sie zu.“ Héloïse fordert Marianne auf, diesen Akt der Selbstbestimmung festzuhalten. Was die drei Frauen am Tag gemeinsam erlebt haben, wird abends zusammen für die Ewigkeit festgehalten. Das vierte Bild ist das finale Portrait von Héloïse. Dieses ist nicht verschwommen, sondern klar. Die Augen von Héloïse blicken Stolz auf den Betrachtenden, ihre Haltung ist selbstbewusst: „Dieses Mal gefällt es mir.“ – „Vielleicht, weil ich Sie jetzt etwas besser kenne.“
Das fünfte Bild ist vielleicht eines der bedeutendsten: Marianne malt sich selbst. Durch dieses Bild – auf Seite 28 eines Buches von Héloïse – wird die Liebe der beiden Frauen festgehalten. Ein Bild als Erinnerung für Héloïse. Das sechste Bild ist namensgebend für den Film. Es ist das Portrait einer jungen Frau in Flammen. In einem der für mich schönsten Kinomomente überhaupt steht Héloïse in Flammen. Ob diese Flammen mehr symbolisieren? Die Flammen der Wut? Die Flammen der Begierde? Die Flammen der Liebe?

Der Titel leitet durch den Film. Hier gehe ich weniger auf das „in Flammen“ ein, sondern mehr auf „Portrait einer jungen Frau“. Viele Kameraeinstellungen des Films wirken wie ein Portrait, die Gesichter der Frauen stehen im Zentrum des Bildes. Ausgehend von ersten Strichen auf einer Leinwand sehen wir, wie Marianne für ein Portrait posiert. Der Film beginnt mit der Entwicklung eines Portraits. Und der Film endet mit einem Portrait. Einem lebendigen Portrait, in dem alle Gefühle des Films noch einmal verbunden werden. Ein letztes Mal betrachten wir durch Mariannes Augen Héloïse. In dieser letzten Einstellung durchlebt der Zuschauer zusammen mit Héloïse die Tage mit Marianne, sie verbindet alles Gesehene, alles Durchlebte: Wut, Trauer, Liebe, Bedauern, Freude. Eine Szene, bei der mir selbst beim fünften Mal das Herz zu zerreißen schien.

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