Amer - ein bizarrer Farbenrausch

02.03.2011 - 08:50 Uhr
Experimentalfilm-Blockbuster "Amer"
Anchor Bay
Experimentalfilm-Blockbuster "Amer"
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Einer der besten Filme des letzten Jahres ist jetzt endlich auch auf DVD erschienen – wenn zunächst auch nur in Großbritannien. Thomas Groh empfiehlt euch Amer – eine großartige Hommage an den Giallo-Film im Gewand eines Kunstfilms.

Endlich kann ich einen meiner liebsten Filme des Kinojahres 2010 hier unterbringen: Die Vorführung des frankobelgischen Films Amer – Die dunkle Seite Deiner Träume auf dem Fantasy Filmfest zählte letztes Jahr zu meinen absoluten Highlights (hier in meinem Blog zu finden) – in Großbritannien ist der Film nun auf DVD erschienen (in Frankreich schon etwas früher, aber ohne englische Untertitel) und damit ein ganz heißer Kandidat für meine Empfehlungsreihe!

Ein Streifzug durch ein vergessenes Genre

Amer – Die dunkle Seite Deiner Träume ist einer dieser 70s-Hommage-Filme, die in vergangenen Jahren (wohl auch durch diverse Tarantino-Trends befördert) durchs Kino zogen – und doch auch wieder nicht: Denn während Filme wie Black Dynamite oder The House of the Devil den Stil übel beleumundeter Genres vergangener Jahrzehnte mit viel Liebe zum Detail lediglich wiederbelebten, nutzt Amer – Die dunkle Seite Deiner Träume die Vorgaben des Giallo, um daraus weit mehr zu machen als nur eine nostalgische Wiederaufführung.

“Äh, Giallo?”, werden jetzt manche vielleicht fragen und das mit Recht: Denn der Giallo, das so bezeichnete italienische Slasherkino der 60er und 70er Jahre, ist heute eher wenigen Menschen ein Begriff. In aller Kürze: Mit enormem Stilbewusstsein verbindet der Giallo einen klassischen Serienkiller- bzw. Whodunnit-Plot mit einer großen Portion Fetischismus und vielen psychosexuellen Abgründen. Wichtigste Erkennungsmerkmale: Die schwarzen Handschuhe des Mörders, nicht selten eine krass gesättigte Technicolor-Farbgebung, stylishe Bilder. Als Genre zehrt der Giallo einerseits von den italienischen Groschenromanen (deren gelber Einband ihm seinen Namen verlieh: Giallo heißt nichts anderes als Gelb), den deutschen Edgar-Wallace-Filmen und nicht zuletzt von Alfred Hitchcocks Slasherklassiker Psycho. Giallo-Regisseure wie Mario Bava oder Dario Argento kennen einige wohl noch heute.

Exzessive Sinnlichkeit

Amer – Die dunkle Seite Deiner Träume bündelt nun alle stilistischen und inhaltlichen Erkennungsmerkmale des Giallos ohne dabei einen Giallo zu erzählen, vielmehr wirft er Schlaglichter auf drei Episoden aus dem Leben von Ana, die sich allesamt durch eine enorm gesteigerte Sinnlichkeit auszeichnen: Als Kind erlebt sie einen sonderbaren Abend in einem alteuropäischen Anwesen. Als junge Frau wird sie enorm von der Virilität in Leder gekleideter Männer angezogen. Als erwachsene Frau schließlich kehrt sie auf das Anwesen zurück – und in den Büschen rund um das Haus schleicht ein Mann in Leder – das Rasiermesser ist gewetzt…

Amer – Die dunkle Seite Deiner Träume zerlegt seine Giallo-Filmwelt dabei munter in eine Abfolge extremer Close-Ups – Kamera, vor allem aber das “Ohr” des Films gehen auf Tuchfühlung. Noch nie im Kino hat man Leder so knirschen, Rasiermesser so über Haut wetzen hören wie hier: Das Ergebnis ist 90 Minuten Gänsehaut – und eine ins Exzessive gesteigerte Sinnlichkeit. Der schöne Mord ist die Kunstform, der der Giallo einst zu seinem Recht verholfen hat – und mit Amer – Die dunkle Seite Deiner Träume erhält diese Kunst nun auch die Weihen des experimentellen Kunstfilms nach Machart von Regisseuren wie Chris Marker. Einen bloßen Erzählfilm darf man von Amer – Die dunkle Seite Deiner Träume deshalb nicht erwarten, vielmehr wird man hier das Gefühl kaum los, dass Dario Argento, Jan Svankmajer und Chris Marker nach einigen Gläsern Absinth zusammen einen Film ausgeheckt haben: Bahnhofskino meets große Kunst – wenn dann noch Originalmusik aus den Gialli der 70er ertönt, ist es zumindest um mein Herz endgültig geschehen! Dennoch eine Warnung an alle Giallo-Nostalgiker: Eine bloße Neuauflage alten Filme ist dieser hier definitiv nicht!

Eigenimport – oder Geduld auf die deutsche DVD

Die britische DVD bereichert den Film noch um vier Kurzfilme der beiden Regisseure, an denen deutlich wird wie lange und mit welcher Hingabe die beiden an ihrer einzigartigen künstlerischen Vision gearbeitet haben. Jeder der Filme wirkt wie eine Studie oder ein Vorstufe von Amer – Die dunkle Seite Deiner Träume: Gerade so, als müsste man erst ertasten und erproben, wie man Style und Tonfall des Giallo in die Ästhetik des Kunstfilms einschmuggeln könnte. Was anfangs noch aussieht wie stilisierte Splatterei im Hobbykeller entwickelt sich nach und nach zum ernstzunehmenden künstlerischen Projekt: Vor allem Le Fin de Notre Amour, der jüngste der vier Kurzfilme ist eine echte Perle für Freunde ästhetisch anspruchsvoller, leicht ins Surreale spielende Horrorkost.

Zu welcher DVD sollte man nun greifen? Die in Frankreich erhältliche DVD hat leider nur einen Kurzfilm im Programm, keine englischen Untertitel (allerdings wird eh nur wenig gesprochen), aber die weitaus schöneren Menüs. Die britische DVD hat (natürlich) englische Untertitel, vier Kurzfilme als Extras, ein Wendecover (auf der Rückseite befindet sich eine nostalgische 70s-Covergestaltung) sowie als Beilage das nostalgische Plakatmotiv als Poster zum Aufhängen. Koch Media hat überdies für 2011 eine deutsche DVD angekündigt, von der noch nichts genaueres bekannt ist. Vagen Andeutungen in diversen Foren zufolge könnte sie aber noch etwas besser ausgestattet sein – wer hier Geduld aufbringt, wird womöglich belohnt!

Und dann noch der Trailer
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Der Film ist über das britische Amazon für rund 15 Euro erhältlich, bei Play portofrei für 12,49 Euro.

Thomas Groh lebt in Berlin, arbeitet für die Programmvideothek Filmkunst im Roderich und schreibt über Filme, zum Beispiel für die Filmzeitschrift Splatting Image, die taz und das Onlinekulturmagazin Perlentaucher. Wenn er nicht gerade sein Blog aktualisiert, verfasst er wöchentliche DVD-Kolumnen für den moviepilot, in denen er Filme von etwas jenseits des Radars empfiehlt, zuletzt etwa Der Elefantenmensch und zweimal ein Best-of-Berlinale (hier und hier).

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