Erstmals machte ich Bekanntschaft mit Danièle Delorme im Alter von
zwölf Jahren im Kino, in „Die Elenden“ von 1957. Sie war für mich die
erste Fantine, ein Maßstab auch für Uma Thurman, Charlotte Gainsbourg und Anne Hathaway. Sie sitzt im Heu auf einem Pferdewagen, ihr Kind im Arm, kneift ein
wenig die Augen zu im gleißenden Licht. So zart und zerbrechlich,
vertrauensvoll und glücklich übergibt Danièle Delorme ihr Kind den
Thénardiers, weil das grobschlächtige Soldatenweib sitzt: Ein Mensch,
der sitzt, statt zu stehen: Schicksale werden dadurch umgestoßen. Und
Danièle Delorme hält den Kopf ein wenig schräg, dankbar ohne Arg, übergibt Bourvil und Elfriede Florin ihre Filmtochter Cosette und ihr letztes Geld, lächelnd.
„Ohne es zu wissem, war Fantine schön. Fantine war nicht nur die Freude,
Fantine war die Scham. Sie hatte Gold und Perlen zur Mitgift, aber ihr
Gold umrahmte ihren Kopf und ihre Perlen waren im Mund.“ . Als es nichts
mehr abzuschneiden und herauszuziehen gibt, verkauft sie den Rest und
wird ein Freudenmädchen; Danièle Delorme nun zahnlos, schreiend, lispelnd, abwechselnd Bernard Blier und Jean Gabin bespuckend. Letzterer wird versuchen sie zu retten. Danièle Delorme entspricht dieser Fantine so herzzerißend;
ihr ergreifendes Spiel ließ mich dreißig Jahre nicht mehr los, bis
heute.
Mit vierzehn sah ich sie wieder, im Fernsehen lief „Der Engel, der ein Teufel war “ (Voici le temps des assassins). Wieder dieses kindliche Gesicht, mit diesem Hauch eines Silberblicks einen natürlichen Instinkt des Beschützens ansprechend, diese schmale doch leicht aufgeworfene Oberlippe, die selbe Schauspielerin ein Jahr vor ihrer Fantine – und wie in den „Elenden“ war Jean Gabin auch hier ihr Partner. Wird er dem Mädchen helfen wie sein Jean Valjean ihrer Fantine? Doch Danièle Delorme, zu Beginn so süß, haut mich schier um, ich war wie gelähmt von ihrem Spiel: unter der engelsgleichen Hülle ist ihre Catherine ein durchtriebenes Miststück, das über Leichen geht und im Finale ein grausiges Ende findet. Und weil sie immer noch ein wenig Fantine für mich war, tat sie mir sogar leid.
Und dann sah ich Danièle Delorme mit
fünfzehn in „
Ein Elefant irrt sich gewaltig“, der die Vorlage zu Gene
Wilders peinlich-ärgerlicher US-Zote „Die Frau in Rot“ war. Im Original hingegen verstand
es Yves Robert , nach Daniel Gélin der zweite Ehemann von Daniéle
Delorme, Figuren zu erschaffen und sie mit Schauspielern lebendig werden
zu lassen.
Ihre Marthe ist die Ehefrau einer der vier Antihelden:
Als Lehrerin wird sie von einem in sie vernarrten Schüler bedrängt
(„Ich liebe Ihre Brüste, vor allem die linke“) und ihr Ehemann (Jean Rochefort) wagt den heterosexuellen Seitensprung mit einer Frau in Rot
(Anny Duperey).
Und wenn Rochefort da so steht, ausgesperrt von
seiner Liebhaberin auf einem Fenstersims eines Pariser Altbaus, weit
unter sich die Passanten und Kamerateams, entdeckt sie ihn in den
Fernsehnachrichten und lacht. Oder bilde ich mir das heute nur ein? In
meiner Erinnerung lacht sie dieses vom Leben überraschte Lachen, für das
eigentlich Fantine gemacht war: „Sie war die Freude, ihre schimmernden
Zähne hatten offenbar eine Mission erhalten: zu lachen.“
An diese drei Filme denke ich heute, wenngleich Danièle Delorme noch einige mehr gedreht hat als 1949 als Gigi, 1951 in "Ohne Angabe der Adresse"; später nur noch sporadisch als Schauspielerin wie ihre Mutterrolle 1983 in "Novembermond" oder zuletzt in "Willkommen bei den Korsen, dafür als Produzentin: den „Krieg der Knöpfe“ zum Beispiel, auch hier das Original, inszeniert 1962 von ihrem Ehemann Yves Robert.
Danièle Delorme ist nun im Alter von 89 Jahren gestorben.