Das Wohnzimmer hatte damals immer eine eigene TV-Ecke. Ein eckiger Ecktisch, der gut in die Ecke passte, war wie angegossen, mit ausreichend Platz für den klobigen Röhrenfernseher darauf. Darunter verstauten wir die vielen VHS-Kassetten, links oder rechts reihten sich CDs aneinander. Vorne lag mein Best-of-Musikvideo-Videoband immer griffbereit, ich habe Musikvideos aufgenommen, weil wir damals noch Musikfernsehen hatten. Eingepackt in ihre gelben Kodak-Pappschachteln habe ich die Bänder in Erinnerung. Wenn das Band gefunden und in den VHS-Recorder eingeschoben war, knisterten die Boxen des Fernsehers verheißungsvoll, so wie ich es heute nur noch von den Plattenspielern kenne, oder vom knusprigen Schnee unter meinen Schuhen im perfekten Winter. Immer dann, wenn wir spulten, vor und zurück, sahen wir die verschneiten und verzerrten Spulbalken im Bild. Wem das Ende eines Films die Lieblingsszene war, der spulte und spulte und spulte und hörte manchmal nie damit auf.
Unvergessen der Moment, als Vater stolz von der Videothek zurückkam und wir Der Sturm sahen, und wie ein weibliches Familienmitglied auf Toilette musste, und wie wir den Film dann stoppten und zusammen lachten, weil im Privatfernsehen ebenfalls Der Sturm lief, aber wir waren schon viel weiter und guckten weiter ohne Werbung. Wir waren alle so unorganisiert, damals, mit nur einer Fernsehzeitung für ein paar Programme ohne classic, ohne HD, ohne + und Gold und ohne extra, damals gab es viel weniger von dem, was wir gar nicht brauchten. Die drei Mark für den Film haben wir trotzdem gerne gezahlt, denn damals haben wir Filme noch zusammen geguckt. Auch in Gemeinschaft mit Freunden. Damals hatte keiner einer einen eigenen PC in seinem Zimmer, mit eigener DSL-Verbindung und eigenem Film-Stream, damals haben wir nicht alleine vor dem Monitor gehockt und geglotzt. Vor dem Fernseher, ja, aber dann besaßen wir den Film wenigstens nicht nur leb- und kunstlos in Bits und Bytes, in der unehrenhaftesten Form übrigens, die es für jedes Kulturgut überhaupt gibt und überhaupt geben kann. Film.avi und Movie.mpeg erzählen mir nämlich keine Geschichte, sie sind zu zeitlos und ohne Charakter, denn sie haben nie irgendwo gestanden oder gelegen oder von ihrer Farbe verloren oder Abnutzungserscheinungen erlitten, mit denen man wie mit Narben Erfahrungen und Vergangenes verbindet. Wir hatten Filme damals ausschließlich in der Hand, das Cover bewundert und beim Drehen die eine Einschubseite zugehalten, damit die Kassette nicht aus der Papppackung fällt, denn das Band war empfindlich und wir deshalb sorgsam. Die weißen Rädchen darin klackerten wie die wertvollen Sammelfiguren in einem Überraschungsei. Ein Videoband hörte sich immer nach dem 7. Ei an. Es war das Geräusch einer Generation und unser Traum, dass es ewig halten würde.
Und wie ich Videotheken liebte! Ihren Geruch! Die Atmosphäre! Die viele Zeit – weil man sie damals noch nicht messen musste – die ich hatte, um sie dort totzuschlagen. Ohne Internet war die Dorfvideothek meine Anlaufstelle Nr. 1. Manchmal vermisse ich diese schnörkeligen, kleinen Läden mit ihrem rauchenden Personal und ihren riesengroßen Mobiltelefonen von Nokia mit Antennen am Ohr, weil sie während der Arbeit immer telefonierten und ich sie nie stören wollte, und wie sie immer aufpassten, dass ich nicht in die geheimnisvolle Ü-18-Abteilung gehe, ein purpurroter Erotik-Vorhang verhüllte den Eingang, aber einmal habe ich es doch geschafft. An der Kasse gab’s Bifis zu kaufen. Programm- und Filmhinweiszeitschriften nahm ich auch oft mit, vor dem Film haben wir sie immer erst durchgelesen. Und die tollen Poster darin! Ich hatte einmal eins von Meg Ryan. Die war damals noch traumhaft toll und echt und hübsch. Wie die Filmindustrie ist sie mir aber geworden, die Gute – so aufgebläht, so künstlich, so fremd.