Engel und Joe und Provinzpunk

25.07.2011 - 08:50 Uhr
Aktion Lieblingsfilm: Engel und Joe
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Aktion Lieblingsfilm: Engel und Joe
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In der Aktion Lieblingsfilm schreiben moviepilot-User über ihre Lieblingsfilme und wie sie zu diesen wurden. Einer unserer Nutzer erzählt davon, warum Engel und Joe einer dieser Filme ist.

Ich schleiche auf Zehenspitzen zum Fernseher. Die Dielen knarzen. Kurze Pause, niemand hat was gehört. Kleine Schritte auf den Brettern, von denen ich schon weiß, dass sie nicht so laut sind wie andere. Ich gehe den Weg nicht zum ersten Mal in der Nacht. Mit Mühe erreiche ich das Sofa, schalte heimlich das Gerät ein, nur um es sofort auf lautlos zu stellen. Der Fernseher steht direkt an der Wand zum Schlafzimmer meiner Eltern.

Ich war vierzehn. Ich war schwer in der Pubertät und bin gegen eins in der Nacht aufgestanden, eigentlich um andere Sachen zu sehen, die für mich damals viel verbotener, aufregender waren. Samstag nachts auf Vox. Witzig, wie ich heute finde, dass mich so etwas tatsächlich mal so interessiert hat, dass ich nachts mindestens fünfzehn Minuten durch das Haus von meinem Zimmer zum Fernseher geschlichen bin, nur damit meine Eltern und Geschwister in unserem hellhörigen Haus nichts mitbekommen.

Der Fernseher war aufs Erste eingestellt. Warum auch immer, schaltete ich noch nicht um. Es war gerade die Verabschiedung der Nachrichtensprecherin und direkt danach schien ein Film anzufangen. Es lief der Vorspann. Ich hörte nicht mal was für Musik lief, es war ja noch immer auf lautlos. Der Titel: engel + joe. Noch nie gehört. Doch mein Interesse war geweckt. Der Film beginnt und ich schalte den Ton ein. Es beginnt für mich wie ein Rausch. Ich habe den Film irgendwie gar nicht wahrgenommen, viel mehr aufgesogen. Ich kann das gar nicht genau erklären, aber der Film war so intensiv für mich, dass erst nachdem er fertig war, ich wieder meinem Bett lag, mir die einzelnen Szenen durch den Kopf gingen und ich so alles noch einmal rekonstruierte.

Man muss dazu sagen, ich war gerade auf dem Höhepunkt meiner Punkphase, hörte nur Wizo, die Toten Hosen und die Wohlstandskinder, hatte Löcher in meinen Jeans , trug Anarchie und Anti-Nazi-Buttons und glaubte „Dagegen“ von den Ärzten sei übertrieben radikal. Ich verklärte wahre Punks, für ihren Mut auf der Straße zu wohnen, sich bei ihren Eltern quer zu stellen, ihre Einstellung zu Autoritäten und zur scheiß Schule. Ich war ein typischer Wohlstandspunk aus der tiefsten Provinz, der sich mit seinen Freunden zum Gitarreschrammeln trifft, um das dann Band zu nennen, aber gerade mal ein Bier in seinem Leben getrunken hat. Die Phase, die viele in ihrer Jugend durchgemacht haben.

Genau in dieser Zeit kommt dieser Film. Der Punk und seine Liebe zu dem Mädchen, aus den besseren Verhältnissen, die immer tiefer in diese Szene reinrutscht. Sie bekommt ein Kind, er ist drogenabhängig, viel Alkohol, viel Sex, viel Musik. Der Film hat mich einfach nur umgehauen. Es war einfach alles so exakt mein Lebensgefühl und so meine Sehnsüchte, die ich in dieses, von mir so krass romantisierte und verklärte, Punkleben projizierte, dass ich mich schwer beherrschen konnte.

Ich fieberte mit, wie selten bei einem Film. Es war für mich das authentischste und ehrlichste kinematische Erlebnis, das ich je hatte. Dieses intensive Leben, zwischen Drogen, Straße und nichts auf die Reihe bekommen, zwischen Sex im Supermarkt, wahrer Liebe und dem im Suff entstandenen Kind, war das Einzige, was mir wirklich erstrebenswert schien. Das war Leben. Das Andere, was ich lebte, erschien mir so unglaublich falsch, bourgeoise und ekelhaft. Diese Fassade der schönen Harmonie, diese Lüge der Familie und diese elende Provinz, aus der ich einfach nicht rauskam.

Und wie mich die Schönheit der beiden wegriss, diese erotische Energie die durchweg über diesem Film lag und vor allem eben über diesen Schauspielern. Diese Lippen von Jana Pallaske, dieses Gesicht. Und ich konnte es nicht vermeiden, auch Robert Stadlober strahlte eine solche Anziehungskraft für mich aus, die mich unglaublich verwirrte. Damit konnte ich nicht umgehen und trotzdem ließ es die Faszination des Films für mich nur noch mehr steigern. Man sah Brüste, Penisse, Exzesse, Sex. Und zwar nicht so wie auf Vox in der Nacht. Das war echt und intensiv. Wie peinlich, der eigentliche Grund weshalb ich den Fernseher ursprünglich eingeschaltet hatte. Peinlich und erbärmlich.

Als der Film zu Ende war, machte ich sofort nach dem Abspann aus. Ich wollte auf gar keinen Fall die Stimmung durch eine Werbung oder einen Programmhinweis zerstören. Die Stille war unglaublich laut und unecht. Ich hörte das Arbeiten der Balken über mir, der Wind vorm Fenster, das Schnarchen meines Vaters. Ich war wieder da. Im falschen Leben. Nicht im Realen.

Ich bin noch oft nachts aufgestanden, um Filme wie Jargo, Sophiiiie! oder Falscher Bekenner zu sehen. Eben Filme, die nachts auf ARD laufen. Doch nie wieder hat mich ein Film so tief in meinem Lebensgefühl getroffen, wie engel + joe. Ich kann schwer behaupten, dies sei mein Lieblingsfilm. Ich habe ihn seither nicht einmal wieder gesehen, aber tonnenweise Gute und Bessere seitdem. Doch das ist bestimmt mein intensivstes Filmerlebnis gewesen.


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