Ich, die Spielregel & eine Untergangsparty

16.12.2011 - 08:50 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Mein Herz für Klassiker geht an Die Spielregel (La Règle du jeu)
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Mein Herz für Klassiker geht an Die Spielregel (La Règle du jeu)
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Es gibt viele Klassiker, über die es sich zu schreiben lohnt. Aber nur die wenigsten haben die historische Bedeutung von Jean Renoirs Die Spielregel aus dem Jahr 1939.

Es gibt Klassiker, die stehen so mächtig und ehrerbietig vor uns Filmfans, dass es umso schwerer fällt, sich ihnen auf einer persönlichen Ebene anzunähern. 2001: Odyssee im Weltraum gehört vielleicht dazu, Citizen Kane ganz sicher und Die Spielregel ebenso. In Bestenlisten taucht die Satire von Jean Renoir (Die große Illusion) immer wieder unter den ersten Rängen auf. Bei der ersten Sichtung verbaute mir eben dieses immense Renommee die ehrliche Umarmung. Doch schließlich schenkte ich La Règle du jeu (so der Originaltitel) Mein Herz für Klassiker.

Warum ich Die Spielregel mein Herz schenke
Die Spielregel und Jean Renoir im allgemeinen gehörten nicht gerade zu meiner Sozialisation. Deswegen sah ich den Klassiker aus dem Jahr 1939 erstmals 2006 auf einer ausgeleierten VHS-Kassette in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek (kurz: Thulb). Die schriftliche Zwischenprüfung stand für uns Magisterstudenten an und Die Spielregel war einer der Kandidaten für die Filmanalyse. Da saßen wir also am hellichten Tag vor einem winzigen Röhrenfernseher und guckten uns dieses über alle Maßen gelobte Werk an. Und: nichts…

Klar, formal steckte da schon einiges hinter der Landhausfarce (Diese Plansequenzen! Die Tiefenschärfe!), doch Bewunderung oder gar Liebe stellte sich nicht ein. Die kam erst später, die Prüfungen waren bestanden, die Thulb noch immer so trist wie zuvor und dann sah ich mir zum gefühlten zwanzigsten Mal Gosford Park von Robert Altman an. Das Landhaus-Whodunnit ist einer meiner Lieblingsfilme aus dem vergangenen Jahrzehnt und erst durch Gosford Park entdeckte ich Die Spielregel neu. Nicht als verehrten Klassiker oder überschwenglich gelobtes Meisterwerk, sondern als traurig-ironischen Blick auf eine Gesellschaft, die in ihren eigenen Untergang hineinfeiert. In Gosford Park sind es die britischen Adligen, die auf ihren moralischen wie finanziellen Bankrott mit einem Scotch anstoßen. Ihre französischen Gegenstücke tun dies nicht weniger blind, aber noch zynischer in Die Spielregel, der ebenfalls in der Zwischenkriegszeit angesiedelt ist.

Warum auch andere Die Spielregel lieben werden
Zuallererst: Ja, in Sachen formaler Gestaltung ist Die Spielregel ein Augenschmaus, dessen vielschichtige Inszenierung es mit dem verspielteren Citizen Kane problemlos aufnehmen kann. Jean Renoir jongliert hier ein großes Ensemble aus Herren, Dienern und Außenseitern, die sich in einem Landhaus einfinden, um ihre Liebeswirren gemeinsam entgleisen zu lassen. Im Mittelpunkt steht Christine, verheiratet mit dem chronischen Ironiker Robert, begehrt vom idealistischen Flieger André und ihrem besten Freund Octave. Daneben werden diverse Liebeleien unter den Bediensteten ausgetragen, was Renoir bei der Figurenanordnung im Raum zu Höchstleistungen antreibt. Da werden Bildvorder- und hintergrund gegeneinander ausgespielt, da schwebt die Kamera durch die Villa, als hätte es damals schon Steadycams gegeben.

Doch Die Spielregel hat sich über die Jahre als zeitlose Satire erwiesen, die mit großer Härte, aber auch mit viel Herz auf ihre absichtlich blinden Figuren blickt. Die könnten amorialischer kaum sein, doch ihre Untergangsparty, ihr dance macabre, macht deswegen nicht weniger Spaß.

Warum Die Spielregel einzigartig ist
In die Filmgeschichte ist Die Spielregel besonders wegen des Einsatzes der Tiefenschärfe und einigen Plansequenzen eingegangen. Denn für sein großes Ensemble und deren Verwicklungen greift Jean Renoir auf wahrhaft dreidimensionale Bilder zurück. Ist er deswegen einzigartig? Wer weiß? Für mich erhält er diesen Status durch seine unvergleichliche Atmosphäre, durch die vollkommene Unsicherheit, ob wir uns hier in einer leichten Farce auf dem Lande oder einer knallharten Auseinandersetzung mit dem Frankreich der Zwischenkriegsjahre befinden. Sind die Wurzeln der Kollaboration auf Film gebannt oder ist das schlicht der Niedergang einer ganzen Epoche, den Renoir unter viel Geplänkel, viel Ironie und ganz besonders vielen Maskeraden versteckt? Keine Sequenz fängt dies besser ein, als jene der Jagd, in der die feinen Herrschaften minutenlang Kaninchen und Fasanen metzeln, als gäbe es keine schönere Beschäftigung auf der Welt.

Warum Die Spielregel die Jahrzehnte überdauert
In den Kanon der Klassiker hat sich Die Spielregel längst unlöschbar eingeschrieben und das obwohl die französischen Zuschauer und Kritiker den Film zunächst als demoralisierend ablehnten. Filmfans jedoch dürfen sich von solchen Ehrungen nicht abschrecken lassen. Die Spielregel ist bis heute nicht nur ungemein bedeutend für die Entwicklung des Mediums Film. Vielmehr muss Jean Renoirs Werk wie jeder andere Klassiker auch selbst entdeckt werden, ob zur Prüfungsvorbereitung oder eben durch einen anderen Film hindurch. Dass Die Spielregel auch in der Spiegelung durch einen modernen Bruder wie Gosford Park an Faszniation gewinnt, spricht jedenfalls für Renoir.

Zu analysieren hatten wir in der Zwischenprüfung übrigens dann doch nicht Die Spielregel, sondern Die Verachtung von Jean-Luc Godard. Aber das ist der Stoff für ein anderen Artikel…

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