Ich beginne mein Filmjahr mit der Berlinale und ende mit den Oscars, orientiere mich somit am US-amerikanischen Kinostart. Daher zähle ich Filme, die zum Teil erst 2019 ins Kino kamen, mit zu 2018, andere wie PHANTOM THREAD wiederum zu 2017. Markant für das Filmjahr 2018 ist das Fehlen großer Arthouse-Crowdpleaser á la CALL ME BY YOUR NAME, THREE BILLBOARDS OUTSIDE EBBING, MISSOURI oder DUNKIRK, auf die sich wirklich jeder bedingungslos einigen konnte. Die diesjährigen Big Player der Awards Season, A STAR IS BORN, THE FAVOURITE, GREEN BOOK oder BLACK PANTHER fand ich alle nur nett bis gut. Nach dem vor zwei Jahren das Meisterwerk MOONLIGHT im Fotofinish gewonnen hat und letztes Jahr wirklich großartige Filme nominiert wurden, begegne ich der Oscarverleihung das erste Mal seit Langem mit einer gewissen Teilnahmslosigkeit. Der einzig wirklich sehr gute Film von den diesjährigen Best-Picture-Nominierten ist ROMA, produziert von Netflix. Ob ich mir nun einen Sieg dieser wunderbar in vollkommener Schwarz-Weiß-Ästhetik gestalteten Kindheitserinnerung von Alfonso Cuaron wünschen soll, kann ich dank seines umstrittenen Produzenten leider immer noch nicht beantworten.
So fühlt sich meine diesjährige TOP 20 vollkommen zu Hause in der selbstgeschaffenen Filmnerdblase. Die Kritikerlieblinge aus Cannes, Venedig, Toronto oder Berlin haben auch mich, wie zu erwarten, begeistert. Aus 148 Filmen, davon 100 im Kino gesehen, habe ich nun 20 ausgewählt, die ich kurz vorstellen möchte. Im Text eher thematisch geordnet findet ihr die vollständige TOP 20 ganz am Ende, ein großer Teil davon ist schon über VoD oder auf BluRay verfügbar. Einige laufen sogar noch im Kino!
DIE ZWEI BESTEN FILME DES JAHRES UND DAS FILMFEST MÜNCHEN
Meine Nummer 1 habe ich beim FILMFEST MÜNCHEN erlebt. Und nachdem ich das Meisterwerk noch zwei Mal im Kino gesehen habe, neue Fragen aufgeworfen worden, die Faszination ungebrochen gleich bleibt, möchte ich einfach den Text von meinem Festivalbericht wiederholen:
„So richtig begreift man erst, wenn die Credits rollen, was man hier gerade gesehen hat. Wie die besten Romane von Haruki Murakami erzeugt der neue Film von Lee Chang-dong Gefühle von Einsamkeit und Isolation. Selten habe ich mich in Perspektivlosigkeit und Resignation so gut einfühlen können. Es ist ein großer Verdienst von Lee und seinem formidablen Schauspielertrio, die traumhaft kühlen Bildkompositionen, den Unbehagen auslösenden und dennoch perfekt reduzierten Score sowie die zurückgenommene Erzählweise rund um soziale Ungleichheit im heutigen Südkorea, in ein so formvollendetes Werk mit großer emotionaler Resonanz zu verwandeln. Nach dem Kinobesuch war ich froh alleine zu sein, etwas entrückt und desorientiert, und doch voller Freude darüber, den vielleicht besten Film des Jahres schon jetzt gesehen zu haben.“
Ebenfalls in München erlebt, lies mich FIRST REFORMED von Legende Paul Schrader zu Beginn noch traurig und frustriert zurück. Erst nach einer Weile konnte ich all die Hoffnung, die in dieser Reflexion über die Dualität des Lebens, um Schmerz und Hoffnung, die Verantwortung des christlichen Glaubens steckt, begreifen. Ein Oscar für das Drehbuch wäre hier das Mindeste. Paul Schrader schafft das Kunststück, eine wütende Anklage an amerikanischen Lobbyismus und Umweltzerstörung in streng kadrierten Bildern zu einem persönlich so greifbaren Werk zu verwandeln. Ich würde ETHAN HAWKE fünfmal für BEST ACTOR nominieren.
DIE UNMÖGLICHKEIT DER LIEBE
Es ist sehr selten, dass ein europäischer Regisseur für einen nicht-englisch-sprachigen Film für Best Director nominiert wird, doch Pawel Pawlikowski ist die Ehre für COLD WAR zuteil geworden und über diese Nominierung freue ich mich besonders. Nach IDA erschafft Pawlikowski erneut eine in schwarz-weiß und im antiquierten 4:3-Format gedrehte Komposition reinster Schönheit. Sinnlicher, lebhafter ist Kino selten. COLD WAR funktioniert als Zeitdokument des kalten Krieges und als traditionsbewusstes in der Folklore verankertes Musical ebenso wie als Langzeitbeobachtung von an sich selbst und dem System scheiternden Liebenden.
Ebenfalls von der Unmöglichkeit einer Liebe erzählt Christophe Honoré in SORRY ANGEL. Dem Aidsleiden und dem dazugehörigen körperlichen wie sozialen Zerfall der Hauptfigur Jacques, wird das junge aufstrebende, sich selbst findende Leben von Artur entgegen gesetzt. Der Film sucht in seinem 90er Flair und Dialogzeilen fürs Poesiealbum einen bewegenden Mittelweg zwischen Trauer und Freude.
Den beiden afroamerikanischen Liebenden Fonny und Tish wird in IF BEALE STREET COULD TALK im Harlem der 70er Jahre nicht durch Krankheit, sondern aufgrund von strukturellem Rassismus das Glück Stück für Stück verbaut. Der sinnliche und doch so wütende Text von James Baldwin findet eine kongeniale Entsprechung in Barry Jenkins Inszenierungsstil. Dank der Anwesenheit des Regisseurs bei der Deutschlandpremiere und einem sehr langen sympathischen Q&A war dies für mich der schönste Kinobesuch des Jahres. Statt Wut und Verbitterung setzt Barry Jenkins am Ende ein Zeichen für die Hoffnung.
Vielleicht die größte kleine Entdeckung stellt GENESIS und
seine Reflexionen über erste junge große Liebe dar, den ich beim großartigen
AROUND THE WORLD IN 14 FILMS Festival erleben durfte. Losgelöst von jeglicher
zeitlichen Einordnung und mit dem Mut zum lang anhaltenden Einsatz großer
Indiepopsongs bricht Regisseur Philippe Lesage gängige Erzählmuster auf und
lässt den Zuschauer verträumt nostalgisch zurück.
STARKE BERLINALE-WETTBEWERBSBEITRÄGE
Die Berlinale zeichnet sich als größtes Publikumsfestival der Welt durch eine unbändige Anzahl verschiedenster, anspruchsvoller Filme aus. Die große Kunst ist es, schon während des Festivals die Highlights zu erahnen und nicht zu viel Schrott zu sehen. Mit einem gewissen Abstand und selektiver Nachsichtung war 2018 ein sehr besonderer Jahrgang. Christian Petzold hat mit TRANSIT sein Meisterstück vorgelegt, in dessen Verlauf die Schrecken der durch die Nazis verursachten Flucht ins heutige Europa in Form eines gespenstigen Liebesmelodrams übersetzt werden. Ein Film, der den goldenen Bären und eine viel größere internationale Beachtung verdient hätte.
FIGLIA MIA von Regisseurin Laura Bispuri fand überraschend schon im Mai seinen Weg in die deutschen Kinos. Mit großem Gespür für die eigenwillige, erhitzte Atmosphäre der sizilianischen Provinz und einem konsequenten Einsatz bildhafter Metaphern wird die Geschichte von Vittoria sehr einfühlsam erzählt, die sich im Streit zwischen ihrer leiblichen und ihrer Pflegemutter langsam selbst findet.
DOVLATOV von Regisseur Alexei German Jr. hat dagegen noch keinen deutschen Vertriebsweg gefunden. Die subtile Biografie zeigt in beiläufiger Natürlichkeit, was es bedeutet, als Künstler seine freie Meinung zu verlieren. DOVLATOV nutzt weder gekünstelte Theatralik oder den dramatischen Moment, sondern weist ganz dezent und mit viel zeitgeistlichen, inszenatorischen Feingefühl daraufhin, wie Stück für Stück der Schrecken der Sowjetunion eine ganze Gesellschaftsschicht zermürbt hat.
POLITIK UND GENRE
In Venedig bereits 2017 ausgezeichnet, beginnt und endet FOXTROT als trauerndes Kammerspiel. Dazwischen erzählt Regisseur Samuel Maoz mit formaler Strenge, großer Symbolik und entlarvenden Metaphern von den Problemen des militärischen Selbstverständnisses Israels und zeigt damit wie aufregend kreativ und unkonservativ der Übergang vom privaten ins politische dargestellt werden kann.
Auch der Genrefilm wagt sich 2018 erstaunlich oft politisch: Die EPD-Film hat HEREDITARY wunderbar als Analogie auf den Zerfall der geordneten Welt der neoliberalen Middle-Class-Famlien bezeichnet. Das Unvorstellbare hält, wenn nicht als unfähige Karikatur eines Politikers dann als übernatürlicher Schrecken, Einzug in den eigenen amerikanischen vier Wänden: vertraute Konventionen brechen auf, die Familie zersetzt sich durch Trauer, Paranoia und Wut. Ari Asters Regiedebüt liefert die schockierendste Szene des Kinojahres. Mir war noch nie so kalt im Kinosaal.
Während sich der deutsche Film über peinliche Theatersatiren (HOTEL AUSCHWITZ), überzogenen Massenmordgrotesken (DER HAUPTMANN) oder von den Oscars vollkommen überbewerteten TV-Kinofilmen (WERK OHNE AUTOR) dem Holocaust filmisch annähert, gelingt dem Italiener Luca Guadagnino nach CALL ME BY YOUR NAME nun mit SUSPIRIA die eindringlichste Aufarbeitung der deutschen Schuldfrage in Form eines feministischen Horrortanzes. Ein irre faszinierendes High-Concept-Werk, was sich unheimlich viel traut, ohne dabei jemals prätentiös zu werden. Tilda Swinton, unkenntlich verkleidet als Dr. Josef Klemperer, bricht einem das Herz.
Ein Highlight des diesjährigen Fantasy-Film-Fests stellt BRAWL IN CELL BLOCK 99 dar. Ein Film, den ich gern mit zehn Jahren, verbotenerweise auf der elterlichen Wohnzimmercouch, gesehen hätte, nur um dann Szenen mit Playmobil nachzuspielen. Ein Gore-Fest mit sozialdramatischen Zwischentönen. In Deutschland leider nur als BluRay erhältlich, doch eventuell im April exklusiv zu sehen in unserem Berliner Kiezkino, dem Filmrauschpalast.
Die zweitbeste Unterhaltung in einem sehr kopflastigen Kinojahr lieferte für mich Steve McQueen, der sich nach 12 YEARS A SLAVE an anspruchsvolles Spannungskino wagt und einen hervorragend inszenierten Edelthriller namens WIDOWS serviert, in dem trashige Elemente des Heistfilms, inklusive banaler Twists, gekonnt kombiniert werden mit politischen Bestandsaufnahmen amerikanischer Großstadtpolitik und dem Aufbrechen klassischer Genderrollenbilder.
ALLTAGSBEOBACHTUNGEN
Mit IN MY ROOM hat es ein zweiter deutscher Film in meine Bestenliste geschafft. Ungemein präzise tastet Ulrich Köhler in den ersten 30 Minuten das Leben vom hedonistisch veranlagten, vom ständigen Nichtentscheiden geplagten Armin und seinen Bezug zum kleinkarierten, kleinstädtischen und doch liebevollen Alltag seiner Familie ab. Wie dieses Bild eines uns allen bekannten Deutschlands, vom privaten zum allgemeingültigen, vom Familiendrama zum Endzeitfilm kippt, hat in mir größere Resonanz erzeugt als erwartet. Hans Löw ist zudem ziemlich stark und empfiehlt sich für weitere Hauptrollen im deutschen Indiefilm.
Neben COLD WAR und ROMA ist wohlverdient SHOPLIFTERS für den Oscar für den besten fremdsprachigen Film nominiert. Endlich findet Regisseur Hirokazu Koreeda für seinen so emphatisch und liebevoll erzählten Sozialrealismus die verdiente Anerkennung. Wir beobachten ein zweckmäßiges, sechs Generationen umfassendes Familienkonstrukt, in dem sich die verschiedenen Mitglieder versuchen gemeinschaftlich mit Ladendiebstählen und schlecht bezahlten Jobs im anonymisierten Japan über Wasser zu halten. Wirkt die Geschichte oberflächlich recht konventionell, so gelingt es dem Film trotz großer emotionaler Kraft, viele Fragen und eine Einordnung von Richtig oder Falsch offen zu lassen, um somit den Zuschauer zum Nachdenken anzuregen.
Der ruhigste und unspektakulärste Film meiner Liste stammt aus Paraguay. In THE HEIRESSES muss sich die von Ana Brun verkörperte Chela mit der vorläufigen Inhaftierung ihrer Lebensgefährtin Chiquita auseinandersetzen. Während die kleinen über Generationen angehäuften Reichtümer Stück für Stück verkauft werden, traut sich Chela langsam aus dem Schatten ihrer Villa, hinein ins Leben, abseits ihres wohlvertrauten Daseins in der Oberschicht Asuncións. Die wundervolle Kamera begleitet Chela auf diesem Befreiungsschlag und lässt ebenfalls immer mehr Licht in die verwinkelten Räume ihrer Villa und ihrer Persönlichkeit.
PERSÖNLICHE FILMKUNST
In seiner in Venedig uraufgeführten dreistündigen Beziehungsstudie besetzt der Regisseur Carlos Reygadas sich selbst und seine Ehefrau als Protagonisten. In der wohl beeindruckendsten Szenefolge des Kinojahres taucht der Film in die Mechaniken eines Pick-Up-Truck-Motors ab. In der Montage entsteht ein vibrierendes Nebeneinander der klappernden Motorenteile, dem im Regen reitenden Ehemann, heimlichen Sexszenen der vergangenen Nacht und dem Close-up von Natalia Lopez. Doch es sind Reygadas Assoziationen, die wir hier sehen, ein wirkliches Verständnis seiner Ehefrau bleibt ihm verwehrt. Diese Unmöglichkeit macht OUR TIME zu einem zutiefst ehrlichen Experiment. Eine wahre Entdeckung.
Als letzten Film möchte ich jedem AN ELEPHANT SITTING STILL, im Forum bei der Berlinale 2018 präsentiert, ans melancholische Herz legen. Regisseur Hu Bo nahm sich tragischerweise nach Fertigstellung des Films das Leben. Die 230 Minuten von AN ELEPHANT SITTING STILL sind ein verzweifelter, bildschöner Appell an die Empathie in uns. Die Kameraführung und seine einmalige Nähe zu den Protagonisten oder auch der dezent eingesetzte Score bewirken einmaliges: Wenn Cheng auf offener Straße stehen bleibt, die Augen schließt und versucht nur einmal kurz innezuhalten, ja, da spürt man die ganze Schwere des Lebens. Ein Film für immer!
1. BURNING - Lee Chang-dong
2. FIRST REFORMED – Paul Schrader
3. COLD WAR – Pawel Pawlikowski
4. AN ELEPHANT SITTING STILL – Hu Bo
5. TRANSIT – Christian Petzold
6. OUR TIME – Carlos Reygadas
7. FOXTROT – Samuel Maoz
8. SUSPIRIA - Luca Guadagnino
9. IF BEALE STREET COULD TALK – Barry Jenkins
10. BRAWL IN CELL BLOCK 99 – S. Craig Zahler
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11. HEREDITARY – Ari Aster
12. GENESIS – Phillipe Lesage
13. SORRY ANGEL – Christophe Honoré
14. DOVLATOV – Alexei German Jr.
15. ROMA – Alfonso Cuarón
16. WIDOWS – Steve McQueen
17. SHOPLIFTERS - Hirokazu Koreeda
18. IN MY ROOM – Ulrich Köhler
19. FIGLIA MIA – Laura Bispuri
20. THE HEIRESSES – Marcello Martinessi