Leider geil! 109 Minuten Staunen und Dauergrinsen

24.08.2013 - 08:50 UhrVor 11 Jahren aktualisiert
Vorgehaltener Spiegel + heftige Reaktion = Relevanz
moviepilot/Majestic
Vorgehaltener Spiegel + heftige Reaktion = Relevanz
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Der Kommentar der Woche ist alles andere als “oversexed und underfucked”. Wir würden sogar soweit gehen und seine Autorin zu unserer neuen Feuchtgebieterin zu küren. ;)

Im Kommentar der Woche versuchen wir jede Woche einen eurer zahlreichen Kommentare zu feiern, egal ob kurz oder ausführlich, alt oder neu, zu einer unanständigen Person, einem schlüpfrigen Film, einer verregneten Serie oder einer anstößigen News – die Voraussetzungen für den Kommentar der Woche kann theoretisch jeder Kommentar erfüllen. Wenn ihr über einen gestolpert seid, der euch besonders gut gefallen hat, schlagt ihn uns vor, am besten per Nachricht.

Der Kommentar der Woche
Momentan schlägt Feuchtgebiete große Wellen in Kommentarsektionen allerorten. Jenny von T hat es auf sich genommen, ungeachtet aller lautstark wiederholten Bekundungen des Desinteresses von allen möglichen Seiten, dem Film eine Chance zu geben – und wurde positiv überrascht:

Leider geil! 109 Minuten zwischen Staunen und Dauergrinsen.
Es ist eines der faszinierendsten, aber auch bezeichnendsten Phänomene dieses Jahrtausends: FEUCHTGEBIETE provoziert und liefert sich aus – in bemerkenswerter Balance. Vielmehr als Coming of Age (traumatisiertes Scheidungskind auf dem Weg zu sich selbst) – und Frauenklischees (obgleich der gemeinsame Toilettengang hier noch ganz andere Ausmaße annimmt…) getränkt in Ekelbrühe gibt’s hier schließlich nicht. Oder vielleicht doch? Ich muss ehrlich gestehen, dass mir David Wnendts Verfilmung des Roche-“Schmierenromans” sympathisch ist, denn selten – vor allem nicht im deutschen Kino – bekam man zuvor eine so unbeschwerte Frauenfigur wie hier aufgetischt. Helen muss keine Wandlung zur Heldin durchlaufen, die am Ende dann doch zu wahrer Größe findet und Verantwortung für alle möglichen Dinge und Personen übernimmt. Ebenso wenig aber muss sie sich irgendwelchen Vorstellungen von Moral und Sitte unterordnen. Die junge Frau ist weder objektivierter Männertraum, noch entspricht sie überhaupt irgendeinem Ideal. Sie ist einfach Helen, und genau darum liebenswert… eine erfrischende und (warum eigentlich?!) selten gesehene Perspektive auf unverfälschte Weiblichkeit, wie sie sein kann. Tatsächlich kaufe ich allen Beteiligten die locker leichte Attitüde ab, die sie hier mit einem Augenzwinkern, aber auch nicht komplett ohne Hintergedanken von zeitgenössischer Relevanz vorgeben. Wnendt verfügt über ein tolles Timing und weiß, wann der Moment gekommen ist, ernstere Zwischentöne anzuschlagen, ohne dabei gleich den Kopf zu verlieren. Wer lediglich eine Aneinanderreihung infantiler Schlüpfrigkeiten erwartet, unterschätzt den Regisseur.

Kaum etwas an FEUCHTGEBIETE (und dies scheint mir keine Selbstverständlichkeit) wirkt sonderlich erzwungen oder übermäßig auf Krawall gebürstet, der Spaß am farbgewaltigen Spiel mit Tabus und Körpersäften übernimmt klar die Oberhand (sogar einen beiläufigen Verweis auf Bertoluccis TRÄUMER hat Wndent im Repertoire) und wickelt den Zuschauer (mich) gekonnt um den Finger. Doch, FEUCHTGEBIETE ist ungemein charmant.

Die drastischen Mittel, zu denen Charlotte Roches Buch greift, entschärft Wnendt hierbei etwas, was dem Film gut zu Gesicht steht, da er so Missverständnisse ein bisschen gerade rückt: Nein, der Appell lautet natürlich nicht, dass es an der Zeit wäre, nun jegliches Schamgefühl (welches ja nicht weniger natürlich und menschlich ist als all die Dinge, die uns FEUCHTGEBIETE so offensiv-dreist unter die Nase reibt) abzulegen. Sehr wohl aber angebracht ist der Verweis auf eine Gesellschaft, die in Sachen Sexualität Wein predigt, aber Wasser trinkt. Tag für Tag sehen wir uns durch sämtliche Medien mit nackten Tatsachen konfrontiert, doch weder allzu offenherzige Werbung, noch YouPorn und Co. und erst recht nicht HANGOVER und dessen Ableger haben zu einem wirklich freieren Umgang mit dem Thema beigetragen – wäre dies nämlich der Fall, wären bereits Roches literarische Ergüsse aufgrund Repetierens belangloser Selbstverständlichkeiten unmittelbar in der Versenkung verschwunden, eben kaum (im Guten wie im Negativen) beachtet worden. Nun aber wiederholt sich der Hype (oder eher: Die Massenpanik?) 5 Jahre später in genau demselben Umfang, und selbst diejenigen, denen FEUCHTGEBIETE angeblich vollends egal ist, werden nicht müde, genau dies lauthals kund zu tun – und den Trubel ironischerweise damit weiter in Gang zu halten.

Zur Klarstellung: Nein, ich setze Verklemmtheit und Ablehnung gegen dieses Werk (natürlich bietet FEUCHTGEBIETE seinerseits genügend Angriffsfläche, über die sich trefflich diskutieren lässt) nicht miteinander gleich, aber dass es anno 2013 überhaupt möglich ist, so kalkuliert in ein Wespennest zu stechen, legt aus meiner Sicht (Achtung, Polemik) schon irgendwie nahe: Wir sind, bei aller nach außen hin proklamierten Toleranz, mehr denn je oversexed, aber underfucked – kein Wunder, wird uns Geilheit von den Medien durch schöne, saubere, makellose Models doch so oft als (wie widersinnig!) etwas Klinisches verkauft. Die Wahrheit ist hingegen die, dass unsere “Hardware” (= unser Körper) über tausende Jahre Evolution hinweg dieselbe geblieben ist – mit allen “Ekelhaftigkeiten”, die dazu gehören und sich nun einmal nicht verleugnen lassen. Es bringt bloß kaum jemand zur Sprache.

Fazit: Solange der vorgehaltene Spiegel derart breite und heftige Reaktion hervorruft, indiziert allein dies für seine Relevanz. Ob und wie weit FEUCHTGEBIETE im Einzelnen als neue, erweiterte Feminismus-Proklamation taugt, vermag ich gar nicht einmal abschließend zu beurteilen (vollends überworfen werden Geschlechter-Rollenbilder hier eigentlich nicht) – dass er Freizügigkeit allerdings am Beispiel einer Frau zelebriert, fühlt sich in jedem Fall gut an, und da stimme ich mit der Roche auch gerne ein, wenn sie (bestimmt nicht ohne Stolz) verkündet: “Vor Jahrzehnten haben Frauen öffentlich ihre Büstenhalter verbrannt, um die Emanzipation voranzutreiben. Das muss man leider immer mal wiederholen.”

P.S. Dass einige Multiplex-Ketten deutschlandweit eine Vorpremiere des Films im Rahmen einer “Ladies Night” (etwa drei Männer hatten sich gestern Abend in den ausverkauften Saal geschmuggelt) veranstalteten, halte ich für wenig bedacht und daher unglücklich arrangiert, denn eigentlich sollten gerade die Herren der Schöpfung eine Auseinandersetzung mit FEUCHTGEBIETE nicht scheuen – wenn sie uns (nicht immer) zarte Wesen danach noch immer lieb haben, wäre das… eventuell ein kleiner Schritt hin zu wieder mehr wahrer Freelove.

Den Kommentar findet ihr übrigens hier.

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