Der in Frankreich geborene Regisseur Pascal-Alex Vincent hat mit Reich mir Deine Hand seinen ersten Film gedreht, sogar eine deutsch-französische Koproduktion. Hier erklärt er, was er sich mit dem Film vorgenommen hat.
Reich mir Deine Hand ist ein Film, bei dem es weniger um das Ziel einer Reise geht als um die Reise selbst. Die Idee dazu kam mir, weil ich mich schon immer für Geschwisterbeziehungen interessiert habe, die natürlich noch intensiver sind, wenn es sich um Zwillinge handelt, denn zwischen ihnen passiert so viel, was einfach nicht greifbar ist. Wie kann ein Mensch zum Individuum werden, wenn die Präsenz des anderen so übermächtig ist? Wie kann ein Mensch mit dem anderen vor Augen wachsen und sich entwickeln?
Antoine und Quentin, gespielt von Victor Carril und Alexandre Carril, sind ein Zwillingspaar, mit dem ich schon bei meinem letzten Kurzfilm Baby Shark zusammengearbeitet habe. Das Drehbuch hat sich zum Teil aus ihrer eigenen, wirklichen Beziehung heraus entwickelt, die oft sehr konfliktreich und komplex ist. Sie sind das Herz meines Road Movies, der eine Geschichte des Erwachsenwerdens und gleichzeitig der Selbstbehauptung ist, in doppelter Hinsicht.
Reich mir Deine Hand folgt der Tradition der existentiellen Road Movies der 1970er Jahre, z.B. von Monte Hellman, Terrence Malick und Alain Cavalier. In diesen Filmen wird der Mythos “Straße” verhandelt, während die spektakulären Ereignisse ausbleiben. Die Dynamik wird von der Reise selbst vorgegeben, von zufälligen Begegnungen und Augenblicken des Stillstands. Die Entdeckung der Sinne ist ähnlich der Sinnenwelt in Joyces Ulysses. Mit Reich mir Deine Hand nehme ich den Zuschauer auf eine Reise mit, auf der Bilder und Klänge den Vorrang vor den Ereignissen haben.
Die Natur wird zur dritten Hauptfigur und die Reisenden werden eins mit der Umgebung. Ihr Weg zieht eine Linie vom Norden (Vater) bis zum Süden (Mutter) und versinnbildlicht somit die Tiefe und Komplexität der turbulenten Zwillingsbeziehung. In Reich mir Deine Hand wollen zwei Brüder die Frage beantworten “Wer bin ich?” und suchen sich den denkbar gefährlichsten Ort aus, um ihre Differenzen auszutragen: die Straße. Ein Ort, an dem alles möglich ist: von Konflikt bis Versöhnung. Am Ende scheut sich der Film nicht, die Emotionalität ihrer endgültigen Trennung in ihrer ganzen Intensität zu zeigen, die ähnlich und unterschiedlich zugleich ist, und beendet die Geschichte um das Erwachsenwerden mit der Frage “Wie wird ein Mensch zum Individuum?”
Quelle: Mit Material von Salzgeber