Gestern ging es auf der Berlinale deprimierend zu. Alle vier Filme, die für mich auf dem Programm standen, beschäftigten sich mit weniger erbaulichen Themen wie menschlichen Abgründen und der Unvermeidbarkeit des Todes. Dafür blieb ich vor filmischen Abgründen verschont!
„Frühsport“ oder „Wozu der Mensch eine Berlinale-Tasche braucht“
Heute Morgen war ich zeitig im Berlinale-Palast, um mir für die erste Pressevorführung gute Plätze zu sichern. Auf Grund einer Empfehlung entschied ich mich für das 4. Stockwerk. Ein bisschen Frühsport kann ja nicht schaden, dachte ich mir, und erklomm frohen Mutes die Treppen. Als ich mich gerade im Saal niederlassen wollte, sprach mich eine freundliche Dame an, ich solle doch bitte meinen Rucksack an der Garderobe abgeben. Nur Umhängetaschen dürften in den Saal mitgenommen werden. Brav latschte ich also wieder alle vier Stockwerke nach unten, entnahm aus meinem Gepäck die wichtigsten Elemente – darunter vor allem mein Frühstück – und machte mich wieder auf den Weg nach oben. Auf halber Strecke wurde ich angehalten. Nein, Essen und Trinken sei im Saal nicht erlaubt. Ich möge doch bitte diese Dinge an der Garderobe abgeben. Das Ende vom Lied: Eifriger Frühsport durch wiederholtes Treppensteigen und bestialischer Hunger während der ersten Vorführung. Dabei liegt die Lösung doch auf der Hand: Morgen nehme ich einfach meine schicke Berlinale-Jutetasche und fülle sie mit kulinarischen Köstlichkeiten. Im Schutz des Dunkels werden die freundlichen Platzanweiserinnen mich hoffentlich frühstücken lassen. Jetzt wird auch klar, wozu der Mensch überhaupt eine Berlinale-Jutetüte braucht: zum Überleben!
Extrem tödlich und unheimlich begabt
Die ersten beiden Filme des Tages beschäftigte sich mit dem Tod. Der Tag hatte noch gar nicht richtig begonnen, da musste ich bereits in dem französisch-senegalesischen Wettbewerbsbeitrag Heute mit ansehen, wie ein Mann seinem Ableben entgegen geht. Aus nicht näher erläuterten Gründen weiß Satché (Saül Williams), dass dies sein letzter Lebenstag sein wird. Der Regisseur Alain Gomis begleitet ihn in diesen Stunden und fängt das Leben mit all seinen Facetten auf unprätentiöse, aber eindrucksvolle Weise ein.
Einen ganz anderen Ansatz verfolgte der zweite Film des Tages Extrem laut und unglaublich nah von Stephen Daldry. In diesem 9/11 Drama findet der junge Oscar (Thomas Horn) ein Jahr nach dem Tod seines Vaters (Tom Hanks) durch 9/11 einen geheimnisvollen Schlüssel. Er ist davon überzeugt, dass sein Vater ihm eine Nachricht hinterlassen hat, die es nun aufzuspüren gilt. Begleitet von einem alten Mann (Max von Sydow) lernt Oscar auf seiner Suche eine Vielzahl von Menschen kennen und entdeckt, dass sie alle auf die eine oder andere Weise mit einem Verlust umgehen müssen. Stephen Daldry attackiert mit seiner Verfilmung des Romans von Jonathan Safran Foer hier auf aggressivste Weise unsere Tränendrüsen. Das ist auch so ziemlich das einzige, das ich dem Film wirklich negativ anlasten kann. Die Schauspieler übertreffen sich gegenseitig in intensiven Darstellungen ihrer Figuren, selbst Sandra Bullock kann mich hier ausnahmsweise begeistern. Die große Entdeckung ist natürlich Jungschauspieler (Thomas Horn), der seine erfahrenen Kollegen mit Leichtigkeit an die Wand spielt.
Auch in der anschließenden Pressekonferenz sorgte der kleine Mann für Erstaunen. Er reichte kaum ans Mikro heran, doch ertönte seine Stimme, stockte allen der Atem in Anbetracht seiner Eloquenz. Besonders beeindruckte er, als er eine Frage, die Stephen Daldry nicht auf Anhieb verstanden hatte, für den Regisseur noch einmal in eigenen Worten zusammenfasste. Dafür gab es dann sogar einen Spontanapplaus. Und falls ihr euch fragt, wie man Jungschauspieler wird: Bevor Thomas Horn zum Film kam, hat er in einem Schultheaterstück mitgewirkt, und zwar als Grashüpfer!
Frauen und ihre Peiniger – Blut und Honig
Der zweite Teil des Tages stand unter dem Motto Machtmissbrauch. Zunächst zeigte uns Frédéric Videau in A moi seule die verstörende Darstellung einer jungen Frau (Agathe Bonitzer), die sich aus einer etwa zehn Jahre andauernden Gefangenschaft befreit. Die Ähnlichkeit ihrer Isolationshaft im Keller mit der Geschichte Natascha Kampuschs ist hier angeblich ein Zufall. Aber ob nun der Realität entnommen oder nicht, gelingt es dem Film, das vielschichtige Verhältnis zwischen Entführer und Opfer unter die Lupe zu nehmen, ohne in die Falle eines Voyeurismus der Marke torture porn zu tappen. Im Gegenteil: Zu Kritisieren ist hier meiner Meinung nach eher die etwas zu weichgekochte Darstellung der Gefangenschaft.
Gar nicht beschönigend war hingegen das Regiedebüt von Angelina Jolie. Zahlreiche Kollegen hatten mich schon im Vorfeld vor der schlechten Dramaturgie und dem unterirdischen Drehbuch gewarnt. Aber obwohl es sich bei In the Land of Blood and Honey um den vierten Film an diesem Tag handelte, vergingen die zwei Stunden Laufzeit durchaus rasch. Es stimmt vielleicht, dass Angelina Jolie es nicht ganz schafft, uns in die Geschichte hinzuziehen, so dass wir in die Gefühlswelt der Protagonistin Ayla (Zana Marjanović) einsteigen könnten. Ich persönlich glaube jedoch, dass der Film gar nicht zu ertragen wäre, wenn wir das unendliche Leid der im Bosnienkrieg missbrauchten Frauen zwei Stunden lang mitfühlen müssten.
Sophies Berlinale-Weisheit
Wenn vor dem Berlinale-Ticketschalter mehr Menschen campieren als am roten Teppich der Premiere von Twilight 4: Breaking Dawn – Biss zum Ende der Nacht – Teil 1, dann gibt es noch Hoffnung für diese Welt!
Ausführlicher habe ich einige dieser Filme erneut in meinem Blog besprochen. Eine Übersicht über die Meinungen meiner Kollegen findet ihr bei film-zeit.
Was meint ihr: Wie explizit müssen denn Darstellungen von Vergewaltigung und Folter im Film eigentlich sein?