Was kommt nach dem Endgame einer Festival-Ära? Die Berlinale hat zwar schon zig mehr Phasen hinter sich als das noch nicht ausgewachsene Marvel Cinematic Universe, doch letztes Jahr gab es nicht nur bei den maskierten Rächern einen gravierenden Einschnitt. Nach 18 Jahren nahm Festivalleiter Dieter Kosslick Abschied.
Zum 70. Geburtstag positioniert sich die neue Führung mit einem schlankeren Programm, so schlank übrigens, dass nur wenige Serien-Gramm Netflix Platz finden. Das wichtigste deutsche Filmfestival kämpft auch dieses Jahr um Relevanz neben Cannes, Venedig und Toronto. Ins Feld führt es aufwendiges Kino aus Hollywood (Pixars Onward) und Europa (Pinocchio) sowie einen gut bestückten Wettbewerb. So aufregend war die Berlinale lange nicht mehr.
Die 3 wichtigsten Punkte vor dem Berlinale-Start:
- Das Festival hat eine neue Führung: Geschäftsführerin ist Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian hat die Künstlerische Leitung inne.
- 18 Filme gehen in den Wettbewerb um den Goldenen Bären, sechs davon stammen von weiblichen Regisseuren.
- Anders als letztes Jahr kommt Netflix im Wettbewerb nicht vor.
Die Berlinale: Netflix muss man mit der Lupe suchen
Warum überhaupt zur Berlinale gehen? Es gibt - das muss an dieser Stelle mit investigativer Nüchternheit gesagt werden - sonnigere deutsche Filmfestivals. Als ich das letzte Mal beim Filmfest München war, hat es immerhin nicht gehagelt. Am Mittwoch begrüßte das Berliner Festival seine akkreditierten Journalisten und Fachbesucher erstmal mit eisigen Körnern. Bloß nicht so lange unter freiem Himmel bleiben. Husch, husch ins Kino!
Ins Kino wohlgemerkt und nicht vor die Mattscheibe. Denn während sich die Konkurrenz aus Venedig daran labt, den Oscar-Kandidaten des Streaming-Dienstes Netflix Premieren zu schenken, hat es dieses Jahr kein Film des Konzerns ins Berliner Programm geschafft. Das hängt sicherlich auch mit der Jahreszeit zusammen. Warum sollte Netflix sein Prestige-Kino so früh zeigen?
Andererseits geht es nicht mal so sehr um den Wettbewerb, in dem 2019 ein Film mit dem roten N im Vorspann gezeigt wurde. In Berlin laufen dieses Jahr in Nebensektionen auch das Fantasy-Abenteuer Onward: Keine halben Sachen von Disney/Pixar, in dem die Sprecher Chris Pratt und Tom Holland (beide mit Avengers-Erfahrung) nach der Magie in der Welt suchen.
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Mit Pinocchio feiert zudem ein aufwendiges europäisches Märchen internationale Premiere. Und wenn ihr euch nach Ansicht des gnadenlosen Mafiafilms Gomorrha - Reise in das Reich der Camorra nicht danach gesehnt habt, einen Kinderfilm von Regisseur Matteo Garone zu sehen, tja, dann kann ich euch auch nicht helfen. Bei Netflix allerdings ist Fehlanzeige, selbst im Bereich leichter Unterhaltung. Also fast.
Netflix, das durch seinen enormen Output wie ein Studio, Indie-Verleih und TV-Sender in einem wirkt, hat es nur in die Berlinale Series-Sektion geschafft. Hier läuft unter anderem The Eddy, die neue Serie von Jack Thorne (Harry Potter und das verwunschene Kind) und Damien Chazelle (La La Land). Über Netflix' Status als Serienproduzent gibt es weit weniger zu diskutieren als über die Filme.
Vielversprechende Vielfalt in Berlin
Weder Pixar noch Pinocchio sind Weltpremieren. Das ist für die Zuschauer letztlich ein Vorteil eines Festivals, das trotz Tradition manchmal wie ein (roter, bärenstarker) Underdog aussieht. Hier können Sundance-Hype-Filme im Wettbewerb laufen (Never, Rarely, Sometimes, Always von Eliza Hittman) und sogar welche, die im August in Telluride uraufgeführt wurden (First Cow von Kelly Reichardt). So schärft man vielleicht nicht das Profil gegenüber Venedig und Cannes, steigert aber potenziell die Qualität des Programms.
Darauf scheint es Carlo Chatrian wohl anzukommen, wie er in einem Interview mit Deadline anmerkte. Zu Netflix sagte er nur so viel: "Wir haben ein paar Filmtitel diskutiert, aber am Ende haben wir nicht die richtige Gelegenheit für uns beide gefunden." Diplomatisch kann sich der neue künstlerische Leiter offensichtlich ausdrücken.
So müssen wir auf kommende Jahre warten, um zu erfahren, wie sich die Berlinale dauerhaft zu Netflix positioniert. Alldieweil können wir uns dieses Jahr an einem aufregend klingenden Wettbewerb erfreuen, in dem junges deutsches Kino neben international wahrgenommenen Autoren steht. Burhan Qurbani (Wir sind jung. Wir sind stark.) verfilmt Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz aus Sicht eines Flüchtlings neu. Christian Petzold wagt sich an die vielschichtige Sage einer Lady in the Water mit Undine. Hauptdarsteller sind das Transit-Duo Paula Beer und Franz Rogowski (mehr im Trailer).
Mit Namen wie Hong Sang-soo (The Woman Who Ran) aus Südkorea und Tsai Ming-liang (Days) aus Taiwan geht dem geneigten Liebhaber des Weltkinos das Herz bzw. die Soju-Flasche auf. Gerade Tsais Days dürfte sich als besonders herausfordernd erweisen. Immerhin hat der Taiwanese, der seine langen Einstellungen fast so liebt wie Hong seinen Reisschnaps, einen Film ohne Dialoge gedreht.
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Jia Zhang-ke (Asche ist reines Weiß) gibt sich ebenfalls die Ehre, allerdings in der Sektion Berlinale Special mit der Dokumentation Swimming Out till the Sea turns Blue. Dort läuft sogar ein südkoreanischer Endzeit-Thriller (Time to Hunt)! In Berlin! Ein bisschen fühlt sich diese Berlinale wie Cannes an. Also einmal abgesehen vom Hagel.
Abschied von den Nazi-Altlasten
Selbstbewusst wirkt das Programm und einigermaßen selbstbewusst ist die neue Berlinale-Führung auch mit den Enthüllungen über Alfred Bauer umgegangen. Erst vor wenigen Wochen hatte Die Zeit Recherchen über den verstorbenen ersten Berlinale-Leiter veröffentlicht, die dessen Karriere während des Nationalsozialismus in ein neues Licht rückten.
Die Entnazifizierung hatte, so der Eindruck, vor allem Bauer selbst besorgt, ging es um die Verschleierung einiger Passagen seines Lebenslaufes. Der alljährlich vergebene Alfred-Bauer-Preis, der letztes Jahr an Systemsprenger ging, wird 2020 durch einen Sonderpreis ersetzt, den "Silbernen Bär - 70. Berlinale" (via rbb ).
So stellt sich die 70. Ausgabe schon vor ihrem Beginn als größere Zäsur des Traditionsfestivals heraus, als zunächst gedacht. Aber, und das macht dieses viel kritisierte und viel besuchte Festival aus, die Berlinale hat mehr noch als Cannes und Venedig die Möglichkeit, alles zu sein, politisch, künstlerisch herausfordernd oder sogar gut. Das ist der Vorteil, wenn man der Festival-Underdog unter den ganz Großen ist. Nur über das Wetter müssen wir noch reden.
Wart ihr schon mal bei einem Filmfestival?