Daniel Craig könnte gemütlich in die Hollywood-Rente schaukeln und er hätte es sich verdient. Immerhin pumpte er sich jahrelang zu unserem Vergnügen auf James Bond-Maße. Im Nachhinein markiert sein letzter 007-Einsatz Keine Zeit zu sterben jedoch weniger ein Ende, als vielmehr den Anfang einer neuen Craig-Ära. Deren Prolog heißt Knives Out. Als Privatdetektiv Benoit Blanc verschlingt der sonst so stoische Filmagent seine Dialogzeilen, als hätte er seit der ersten Klappe von Casino Royale Hunger gelitten.
Der dritte Film der Reihe ist schon in Planung, doch zuvor setzt Craig zum nächsten schauspielerischen Querschläger an. Er spielt die Hauptrolle in Queer, dem neuen Film von Call Me By Your Name- und Challengers-Regisseur Luca Guadagnino. Beim Filmfestival in Venedig wurde Queer jetzt der Öffentlichkeit gezeigt.
Ex-Bond Daniel Craig entwickelt eine Obsession für Outer Banks-Star Drew Starkey
Die Rolle des William Lee in Queer ist wahrscheinlich – Benoit Blancs Charme zum Trotz – die bis dato aufregendste in der Karriere von Craig. Zwischen den Geheimagenten, Killern, Detektiven und Lara-Croft-Love-Interests in seiner Filmografie finden sich nicht viele Männer wie Lee. Der drogensüchtige Autor ist das Alter Ego von William S. Burroughs (Naked Lunch), der in dem unvollendeten Roman Queer seine Zeit im Mexiko der 50er Jahren verarbeitete.
Nicht nur die Figur bietet Abwechslung. Craig hat seit 2010 in nur 11 Spielfilmen die Hauptrolle übernommen, die meisten davon Franchise-Filme (und Cowboys & Aliens). Queer fällt aus diesem Muster heraus. Überdies zählt Luca Guadagnino zu den interessantesten Regisseuren, mit denen er bislang zusammengearbeitet hat.
Gemeinsam entführen sie uns in die Technicolor-Version eines Mexikos, das im italienischen Filmstudio Cinecittà nachgebaut wurde. Ausgestattet mit einem Vorhang schweiß getränkter Haare und einer geistreichen Anekdote auf den Lippen, frequentiert William Lee die Bars seines Viertels, um jüngere Männer abzuschleppen.
Zumeist betrunken und/oder high, ist er keine sonderlich einladende Person, doch unter der Schale aus Bonmots und Heroin brodelt die Sehnsucht nach mehr. Eines Abends fällt sein Auge auf Eugene (Drew Starkey aus dem Netflix-Hit Outer Banks), einem aalglatten jungen Mann, der nicht ins Muster von Lees One-Night-Stands passt. Lee entwickelt eine Obsession für Eugene, obwohl dessen sexuelle Orientierung ihm Rätsel aufgibt.
Nach Challengers ist Queer ein rabiater Richtungswechsel
Daniel Craig beeindruckt mit seiner verletzlichen Darstellung, während Drew Starkey sich für Großes empfiehlt. Immerhin liegt es an ihm, die personifizierte Sehnsucht darzustellen und gleichzeitig als eigenständige Figur standzuhalten. Das gelingt ihm so gut, dass man sich Queer auch aus Sicht von Eugene vorstellen könnte und gelegentlich auch will.
Queere Lust wird in Queer ohne Pfirsiche, sondern wesentlich bildlicher inszeniert. Wirkliche Grenzüberschreitungen, was die Freizügigkeit oder die Choreografie der Körper angeht, erwarten einen nicht. Der Fokus liegt auf der seelischen Verbindung der beiden. Das gipfelt in mehreren wirklich berührenden, zarten Szenen zwischen Craig und Starkey, die zum besten gehören, was Craig in seiner langen Karriere zustande gebracht hat.
Nach Challengers markiert Queer aber einen rabiaten Richtungs- und Stimmungswechsel. Spontaneität und Rastlosigkeit werden gegen eine spätabendliche Melancholie getauscht, zugeschnitten auf den Helden, der im Alter eine profunde Beziehung sucht.
Eingebettet wird das Ganze in eine Kulissenwelt, die laut Guadagnino von den Filmen von Michael Powell und Emeric Pressburger (Die roten Schuhe) inspiriert wurden . Wo Powell & Pressburger aus den Märchenwelten echten Zauber und Schrecken ziehen, bleibt Queer allerdings öfter in seinen theatralischen Anlagen hängen.
Die Aufmachung ähnelt Guadagninos Suspiria-Remake (ohne die Schockeffekte), während die Rohheit seiner letzten Filme dringend vermisst wird. Etwas mehr Chaos hätte Queer gutgetan. Erst in der zweiten Hälfte zieht es tröpfchenweise ein. Dann taucht Leslie Manville als einsiedlerische Urwald-Botanikerin mit Ayahuasca-Vorrat auf und Guadagnino zaubert eine Rauschsequenz aus dem Hut, die die Sehnsucht eines Menschenlebens in ein paar Minuten destilliert.
Ein Glück, dass James Bond tot ist.
Queer hat zum Zeitpunkt dieses Artikels noch keinen deutschen Starttermin.