Ein Penis zu wenig für das deutsche Publikum

02.02.2010 - 08:50 Uhr
Im Reich der Sinne
Oshima Productions / Argos Films
Im Reich der Sinne
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Eine Kastration sorgte 1976 dafür, dass die Berliner Kripo Im Reich der Sinne beschlagnahmte, noch bevor er auf der Berlinale gezeigt werden konnte. Nie zuvor wurde Zensur so drastisch und grundlos betrieben wie bei diesem Erotikfilm.

Wir schreiben das Jahr 1976 und die Moralhüter sind noch ein bißchen aktiver als sie es heute sind. Die Berlinale ’76 ist so gut wie gelaufen, als es in einer Vorstellung des Internationalen Forums zum Eklat kommt: Im Reich der Sinne wird beschlagnahmt, und das nur, weil die Presse – wahrscheinlich könnt Ihr Euch denken, welche Zeitungen genau – reißerisch über den Film berichtet hat. Grund genug, für die Hüter der Moral einzuschreiten, um die geistige Volksgesundheit zu wahren.

Im Reich der Sinne beruht auf einer wahren Begebenheit im Japan des Jahres 1936: Kichizo (Tatsuya Fuji), der Besitzer eines Geisha-Hauses und Bordells, beginnt eine selbstzerstörerische Affäre mit Sada (Eiko Matsuda), einer Dienerin. Gefangen in sexueller Begierde verlässt er seine Familie, um nur noch für den Sex mit ihr zu leben. Ein Tabu nach dem anderen wird gebrochen, bis die sadomasochistischen Exzesse der beiden schließlich tragisch enden. Auf seinen Wunsch hin, erwürgt Sada Kichizo während des Aktes und kastriert ihn schließlich.

Im Reich der Sinne von Nagisa Ôshima war von Anfang an umstritten. Gedreht in Japan, musste der Film nach Frankreich geschickt werden, da die strengen Zensurvorschriften in Japan eine freie Postproduktion unmöglich machten. In Cannes war der Film bereits ohne Eingriffe der Staatsmacht (wenn auch nicht ohne Proteste) gelaufen und hatte einen Preis des British Film Institues gewonnen. Das hielt deutsche Gründlichkeit jedoch nicht davon ab, zur Tat zu schreiten. Schließlich hatten die Moralhüter (auch ohne das Werk selbst gesehen zu haben) in der Berichterstattung genug darüber gelesen, um eine Beschlagnahmung zu “rechtfertigen”.

Auch wenn sich die internationalen Kritiker auf der Berlinale über die künstlerische Qualität und die ästhetischen Einsichten in Im Reich der Sinne einig waren, die Staatsanwaltschaft des Amtsgerichts Tiergarten hielt an der Beschlagnahmung fest. Das Argument, dass eine subjektive Beurteilung eines Werkes wie diese nicht nur die Kunstfreiheit einschränke, sondern obendrein eine Beschneidung der Presse- und Fillmarbeit in Deutschland bedeute, ließ das hyperaktive Gericht nicht gelten. Filmemacher, Journalisten, die Festspielbetreiber protestierten lautstark – ohne Erfolg.

Den Berlinale-Verantwortlichen gelang trotz allem eine heimliche Vorführung. Unter falschem Titel ließ der französische Produzent des Films, Anatole Dauman, eine zweite Kopie des Films einfliegen, die gerade noch zum Ende der Filmfestspiele am 6. Juli 1976 aufgeführt werden konnte.

Es sollte geschlagene 18 Monate dauern, bis der Bundesgerichtshof Im Reich der Sinne wieder frei gab und feststellte, dass es sich bei dem erotischen Kunstfilm nicht um menschenverachtende Pornographie handelte. Am 27. Januar 1978 durfte der Film dann offiziell und ungeschnitten in West-Deutschland uraufgeführt werden. Eine Entschuldigung des Berliner Senators für Wissenschaft und Kunst, Gerd Löffler, kam da jedoch zu spät: Das Ansehen der Berlinale und Deutschlands als freies Land für Kunst und Kultur hatte gelitten.

Im Reich der Sinne läuft übrigens am 12. Februar 2010 um 23:00 auf 3sat, für alle, die sich von dem Skandal überzeugen wollen.

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