Workaholics sind Menschen, die sich mächtig ins Zeug legen und ihr Leben der Arbeit verschrieben haben. Für den japanischen Filmemacher Takashi Miike, der am heutigen 24. August seinen 65. Geburtstag feiert, müsste man aber ein ganz neues Wort erfinden, denn der gängige Begriff wird seinem irrsinnigen Schaffenspensum irgendwie nicht gerecht. Der Horror-Meister hinter abgefahrenen Alpträumen wie Audition oder Gozu ist allerdings vielseitiger, als manche ahnen.
Seit Mitte der 90er Jahre drehte Miike weit über 100 (!) Filme. Am bekanntesten ist er für zwar für ultraharte Grusel- und Yakuza-Titel, seine Filmographie ist aber wie eine Schachtel möglicherweise abgelaufener Pralinen: Man weiß nie, was man kriegt und ob man sich eventuell übergeben muss. Deshalb wollen wir zur Feier des Tages ein wenig Übersicht in seinen wahnwitzigen und oft überraschenden Output bringen.
Regisseur Takashi Miike: Japans wandelbare Wildcard mit über 100 Filmen auf dem Buckel
Miike einfach als Quentin Tarantino Japans zu bezeichnen (was viel zu oft vorkommt), wird dem wandelbaren Filmemacher nicht gerecht. Es stimmt zwar, dass Gewalt und Gangster auch bei ihm sehr oft eine Rolle spielen und er sich gern stilisierten Blutorgien hingibt, seine Genre-Auswahl und tonale Spannweite ist aber viel weiter gefasst. Wer in einen Miike-Film geht, spielt Filmlotto beziehungsweise japanisches Cinema-Roulette. Es wird nicht immer der beste Film sein, den ihr je gesehen habt. Er wird aber häufig auf bestimmte Weise ungewöhnlich sein oder eine wilde Idee enthalten, der man so noch nie begegnet ist.
Grob lässt sich Takashi Miikes Filmographie in folgende Genres aufteilen, die sich nicht selten sogar überschneiden:
- Yakuza/Gangster-Filme wie Graveyard of Honor
- J-Horror-Titel wie The Call
- Samurai-Filme wie 13 Assassins
- Arthouse-Experimente wie Big Bang Love
- Anime/Manga/Game-Adaptionen wie Jojo's Bizarre Adventure
- Komödien wie The Happiness of the Katakuris
- Kinderfilme wie The Great Yokai War
Man sollte sich aber vorsehen, Miike als rein handwerklichen "working director" zu bezeichnen. Sein Hauptinteresse Horror und die damit verwobenen Sensibilitäten scheinen nämlich oft in seinen übrigen Genres durch. In der Videospielverfilmung Ace Attorney (ein humorvolles Gerichtssaal-Adventure) schmückte er etwa die Geisterbeschwörung eines Mordopfers sowie die Hintergrundgeschichte eines zu Unrecht beschuldigten Zeugen auf dramatischste Weise aus. In seinem Ghibli-esken Kinderfilm Krieg der Dämonen - The Great Yokai War hingegen katapultiert er einen jungen Helden in die mythologische Welt japanischer Monster und reizt aus, was man Kids im Kino zutrauen kann.
Gleichzeitig weiß Miike im Rahmen der größtmöglichen Grenzüberschreitungen mit ungeahnter Sensibilität zu überraschen. Wenn er beispielsweise die innere Aufruhr des labilen Auftragskillers aus Ichi the Killer in Szene setzt, während der seine Opfer mit rasiermesserscharfen Klingen an seinen Schuhen tranchiert. Oder wenn er im Skandalfilm Visitor Q von der denkbar dysfunktionalsten Familie erzählt, die inmitten von Inzest und Nekrophilie einen versöhnlichen Moment miteinander teilt. Das sollte nicht funktionieren, geht Miike aber erschreckend routiniert von der Hand.
Man könnte zumindest meinen, eine so kontroverse Gestalt mit dermaßen unappetitlichen Spezialinteressen würde sich nicht im berührenden Arthouse-Dramen zuhause fühlen. Wir sprechen hier schließlich von dem Mann, der die Titelsequenz von Ichi the Killer mit (echtem!) Sperma konstruierte, sein Gangster-Epos Dead or Alive mit der längsten Koks-Line aller Zeiten in Schwung brachte und das Love-Interest aus Audition als Sadistin zeigte, die ihrem verstümmelten Opfern das eigene Erbrochene als Dinner anbietet. Aber auch hier ist Miike für eine Überraschung gut, wie er mit dem homoerotischen Gefängnisdrama Big Bang Love, Juvenile A bewies.
Ausdruckstanz, aufgemalte Zellenwände à la Lars von Trier, Animationssequenzen und das schöne Gesicht von Ryuhei Matsuda, der in Miikes musikalischem Samurai-Metzel-Epos Izo sogar Gott spielen durfte, machen diesen Film zu einem der bemerkenswertesten Titel in der umfangreichen Filmographie des Genre-Meisters. Auf Sci-Fi-Elemente wie ein Raumschiff und einen J-Horror-Geist verzichtete er aber auch in Big Bang Love nicht.
Kontroverser Tausendsassa, Gelegenheitsschauspieler und Mädchen-TV-Guru
Mit Tarantino verbindet Miike immerhin, dass er wie sein amerikanischer Kollege hin und wieder vor der Kamera auftaucht. So hat er zusätzlich über 20 Schauspielrollen vorzuweisen. Unter anderem ließ er sich im Torture-Porn-Klassiker Hostel blicken, tauchte bewaffnet in seinem eigenen Gangsterfilm Graveyard of Honor auf und lieh mehreren Anime-Charakteren seine Stimme – zuletzt in seinem animierten Katzen-Horrorfilm Nyaight of the Living Cat. Bei Tarantino selbst gastierte er nie, aber das Gegenteil ist der Fall: Der Kill Bill-Regisseur ließ sich bei Miike in Sukiyaki Western: Django blicken.
Im Jahr 2017 fügte Takashi Miike seiner unvorhersehbaren Karriere ein weiteres Standbein hinzu. Wer mit Sailor Moon vertraut ist, weiß schon mal, was Magical Girls ist: japanische Superheldinnen in Rüschenröckchen. Für dieses japanische Fantasy-Untergenre hob Miike ein ganzes Franchise aus der Taufe. So wurde er zum Serienschöpfer und Chef-Regisseur von Idol × Warrior: Miracle Tunes!, einer musikalischen Magical-Girl-Sendung, die sich an junge Mädchen richtet und bereits mehrere Serien umfasst.
Heißt das, Takashi Miike, einer der härtesten Hunde, die jemals Filme gemacht haben, ist soft geworden? Wohl kaum. Erst 2023 lieferte er mit Lumberjack the Monster seinen bisher letzten Thriller ab (der klammheimlich auf Netflix streamt) und für kommendes Jahr hat er unter anderem ein japanisches Remake von Bad Lieutenant in petto.
65 ist offenbar kein Alter für jemanden wie Miike, der hoffentlich noch mehrere abgefuckte, überraschende Streifen in sich hat. Alles Gute und auf die nächsten 100 Filme!