(Ein Praxisraum, geblümte Tapete, altmodische Einrichtung aus dunklem Holz, eine Couch, ein Tisch und ein Stuhl, zwei Personen)
Psychiater:
Fangen wir doch einfach an: Wie fühlen Sie sich heute?
Ich2:
Verwirrt. Möglicherweise...
Psychiater:
In welcher Haut stecken Sie denn? Oder… in welcher Gemütslage befinden Sie sich in welchem Zustand?
Ich2:
Man bevorzugt doch immer starke Figuren, vor allem, wenn man sich gerade schwach fühlt. Figuren, die aber auch gleichzeitig Schwächen erleben. Schließlich muss man sich doch damit identifizieren können… oder nicht?
Psychiater:
Richtig.
Ich2:
Dann wäre ich doch heute einmal Beatrix Kiddo. Oder nein, Katniss Everdeen. Irgendwie ist Frau Kiddo alt geworden.
Psychiater:
Warum?
Ich2:
Weil die Geschichte auserzählt ist. Immer, wenn eine Geschichte in meinem Leben auserzählt ist, verschwindet auch die Identifikation mit der Figur. Natürlich bleibt ein Hauch dieser Person immer haften, ein Schatten, wenn Sie so wollen. Ich kann mir die Filme heute immer noch genauso gut ansehen, mit der Erinnerung an damals. Ich kann mich an die Dinge erinnern, die ich damals erlebt habe und daran, wieso ich diese Person in so vieler Hinsicht als Identifikationsfigur gewählt habe. Aber das Leben geht weiter. Man verändert sich ja selbst. Und schließlich hat man immer noch eine eigene Persönlichkeit. Aber das Gefühl von damals existiert eben nicht mehr so. Es passieren neue Dinge und man sieht neue Filme, und so verbindet man zwangsläufig neue Dinge.
Psychiater:
Und warum dann die Identifikation mit Katniss?
Ich2:
Es gibt Dinge im Leben, die geschehen und Filme, die man in solchen Situationen sieht. Und man erkennt Parallelen, jeder Mensch wird das schon erfahren haben. Es hilft einem mit bestimmten Dingen klarzukommen. Meistens überwindet man so gewisse Hürden für sich selbst. Es ist doch gut, oder nicht?… Wenn es einem so leichter fällt…
Psychiater:
Stellen Sie sich vor, diese Person zu sein?
Ich2:
Nein… Das ist der falsche Ansatz, glaube ich. Das ist schwierig, zu erklären… Ich weiß nicht… (Pause)
Psychiater:
Und Sie hatten das schon immer?
Ich2:
Ist das so ungewöhnlich?
Psychiater:
Nein. Das ist normal. Menschen haben sich schon immer, vor allem in emotional schwierigen Situationen, mit Figuren jeglicher Art identifiziert. Stellen Sie sich vor, sie haben starken Liebeskummer. Warum sehen Sie sich in dieser Zeit Filme an, in denen die Hauptfigur eben auch mit diesem Thema umgehen muss? Sie identifizieren sich automatisch mit diesem Leid. Der Kummer schweißt zusammen. Das hilft ihrem Gehirn bei der Verarbeitung. Sowas kann Ihnen sehr gut tun. Wenn Sie glücklich sind, ist es ganz normal, eher mit der Euphorie von Figuren konform zu gehen. Sich mitzufreuen. Und bei Filmen, die Sie ganz besonders mögen, ist es normal, sich mit der Hauptfigur zu identifizieren und einen Teil diese Person vielleicht ein Stück weit in sich aufzunehmen. Vielleicht schlägt sich das auch teilweise in ihrem Verhalten wieder. Ich hatte einen Patienten, der sich nach den „Fluch der Karibik“-Filmen immer mal dezent aufführte wie Captain Jack Sparrow.
Ich2:
Ich glaube, bei mir ist es eher dieses „Gemeinsam leiden“-Prinzip. Und die Parallelen, die man sonst sieht… Ich glaube, ich würde mich nicht mit Personen identifizieren können, die mich optisch nicht ansprechen würden. Oder charakterlich. Vielleicht glaube ich ja, Katniss ist charakterlich wie ich. Ich will nicht charakterlich wie sie sein. Ich bin viel zu gern ich selbst.
Psychiater:
Es gibt unterschiedliche Arten der Identifikation mit Figuren jeglicher Art. Sind es immer Frauen?
Ich2:
... Nein. Obwohl. Jein. Ich glaube, bei männlichen Figuren kommt die Attraktivität dazu, also eher dieses "Anhimmeln", obwohl vielleicht auch eine Identifikationsbasis besteht.
Psychiater:
Es sind Filmfiguren. Und warum sollte man nicht in seiner Fantasie auch Identifikation zu männlichen Figuren suchen. Es geschieht schließlich alles in Ihrem Kopf. Das passiert öfter, als Sie denken. Würde es mehr weibliche Figuren vom Typ "Indiana Jones" geben, würden sich Frauen vielleicht eher mit diesen identifizieren. So tun sie das mit dem männlichen Pendant.
Ich2:
Frauen identifizieren sich mit Indiana Jones? Stehen die nicht einfach nur auf Harrison Ford?...
Psychiater:
Natürlich wird sowohl das eine als auch das andere vorhanden sein. Vielleicht ist das manchmal gar nicht mal so leicht, zu durchschauen.
Ich2:
Und... wohin führt das alles jetzt?
Psychiater:
Fühlen Sie sich jetzt besser?
Ich2:
Ein bisschen. Jedenfalls nicht schlecht für jemanden, der seine Kraft ab und zu daraus zieht, sich vorzustellen, jemand anders zu sein.
Psychiater:
Solange Sie sich nicht für die Person halten und Ihre Realität aus den Augen verlieren, können Sie so oft Sie wollen von der Kraft dieser Person zehren. Eigentlich ist es ja Ihre eigene.
...
_______________________________________________________________________________________
Ich mal Ich ergibt Ich². Das sind viele. Wir sind geprägt von Personen um uns herum. Das können wir nicht verhindern. In dieser medialen Welt werden Film- und Serienfiguren immer prägnanter für unsere Eigenidentifikation. Das ist normal geworden.
Wir streben nach Vorbildern und Idolen in einer Welt, in der Individualismus vorherrschend sein will, jedoch die Angepasstheit überwiegt. Aus der Rolle zu fallen ist etwas, was der Mensch sich nicht leisten möchte, um nicht aus der Gesellschaft zu fallen. Wie gut, dass es Filme gibt, und damit Identifikationsfiguren für jedermann, denn dieses Medium macht es dem Einzelnen leicht, jemand anderer zu sein, Abenteuer zu erleben, rasante Verfolgungsjagden über Autobahnen zu veranstalten und überhaupt große Emotionen auszuleben.
Filme haben Bücher diesbezüglich schon lange abgelöst. Es ist einfacher, in kürzerer Zeit in eine Welt, die hier ja bebildert dargestellt wird, einzutauchen, der Hauptfigur zuzusehen, wie sie leidet, liebt und kämpft, die in einer Sequenz noch einen prägnanten Spruch auf den Lippen hat, in der nächsten betreten schweigt. Die Sehnsucht danach, in diese Welt einzutauchen, es dem Protagonisten gleichzutun, ist groß, diese Person zu SEIN, denn meistens wird am Ende alles gut, und wenn nicht, dann ist da doch meistens dieser Märtyrergedanke.
Ein Film kann nicht die Intensität eines Buches erreichen, denn die Figuren werden viel oberflächlicher dargestellt, der wahre Tiefgang wird nur sehr selten erreicht und kann meistens nur durch nach außen gezeigte Emotionalität oder Aussprüche dargestellt werden. Dennoch: Länger als bei einem Film hält die Identifikation mit der Buchfigur beim Leser auch nicht an. Entscheidend ist die Tiefe des Eindrucks, also die Wirkung der Figur, und die kann durch den Schauspieler genauso gut erreicht werden.
Filme leben von der Identifikation des Konsumenten mit einer der Figuren (Ausnahmen sind natürlich Filme, die gerade darauf abzielen, dass kein Identifikationspunkt entsteht.).
Nun, lieber Leser, wer ist Ihr Film-Ich? Und warum ist das so?
_______________________________________________________________________________________
Hier gehts zu den Texten meiner wunderbaren Mitstreiter:
Grimalkin | Schlopsi | Martin Canine | Boogers666 | Friedsas
Möchtest du auch teilnehmen, dann schreib doch was zum nächsten Thema (zum 1. Juni). Das heißt nämlich:
"I just can't get enough - Die filmische Auseinandersetzung mit Sucht und Obsessionen, mit Gier und Fetischen, mit der Lust am Rausch und an der Macht."
... und dann meldest du dich am besten bei Grimalkin oder chita91. Die helfen dir dann weiter und kochen dir, wenn's dir schlecht geht, auch gern einen Tee. :)
Hier gehts zur Übersicht aller insgesamt veröffentlichten Artikel.