Die inneren Werte zählen usw., aber Alan Ritchson verdankt sein Casting für die erfolgreiche Amazon-Serie Reacher sicher auch seinem einschüchternden Körperbau, der Lee Childs Romanhelden ziemlich nah kommt. Was nicht bedeutet, dass Jack Reacher den ganzen Tag nur böse Buben plättet. Wer weder Serie noch Childs Bücher kennt, könnte überrascht sein, wie wichtig die minimalistischen Dialoge sind.
Insofern dürfte es sich bei Motor City um eine der größeren Herausforderungen in der Karriere des aufsteigenden Actionstars handeln. Ritchson darf in dem ganzen Film nur eine Handvoll Wörter von sich geben und das gilt auch für alle anderen Stars im Ensemble. Motor City ist ein Action-Experiment, wie man es selten sieht.
Die Story des Actionfilms mit Reacher-Star Alan Ritchson passt auf eine Serviette
Deadline hat mitgezählt und fünf Dialogzeilen in dem 103 Minuten langen Film gefunden, der beim gerade laufenden Filmfestival in Venedig in einer Nebensektion Weltpremiere gefeiert hat. Das ist wenig, andererseits haben wir es hier nicht mit Hamlet zu tun. Ritchson spielt den harten Hund Miller, der sein Leben im Detroit der 1970er Jahre wieder auf die richtige Bahn gebracht hat. Mit Sophia (Shailene Woodley) hat er die Liebe seines Lebens gefunden und die letzten Minuten seiner Bewährungszeit verrinnen gerade.
Alles könnte perfekt sein, wären da nicht Sophias Ex, der Drogenboss Reynolds (Ben Foster in einer klassisch-schmierigen Ben-Foster-Rolle) und der korrupte Cop Savick (Master Chief Pablo Schreiber). Beide hecken einen Plan aus, schieben Miller ein paar Kilogramm Drogen unter und schon wird er zu 25 Jahren Haft verurteilt. Sophia flüchtet sich in die Arme von Reynolds, während Miller im Knast nach Rache giert.
Story und Figuren passen auf eine Serviette, oder sagen wir besser eine Schachtel Streichhölzer aus einer ranzigen Kneipe. 103 Minuten fast ohne Dialoge wollen trotzdem gefüllt werden. Wie also gehen Regisseur Potsy Ponciroli und Chad St. John die Herausforderung an?
Motor City ist wie ein Jukebox-Musical, in dem Knie zerschossen werden
Zunächst einmal: Anders als in John Woos ähnlich gelagertem Silent Night - Stumme Rache von 2023 gibt es keine Erklärung für die Sprachlosigkeit aller Beteiligten. Chad und Potsy (was für actionfilmreife Namen!) steigen einfach ein und kompensieren die Abwesenheit der Sprache mit zwei Dingen: 70er-Bangern und ultracoolen Zeitlupen.
Der Film wird von einschlägigen Hits wie David Bowies "Cat People" oder Donna Summers "I Feel Love" begleitet. Wenn das Geld für die Songlizenzen schlapp macht, muss Komponist Steve Jablonsky mit melodramatischem Sub-John-Wick-Gedudel ran. Dank der Dauerbeschallung fühlt sich Motor City wie ein Jukebox-Musical an, in dem Knie zerschossen werden, statt zu singen und zu tanzen.
In Sachen Choreografie gibt es tatsächlich ein paar herausragende Sequenzen brutaler Körperzerstörung in Motor City. Darunter ist ein heftiger Fahrstuhl-Fight zwischen Alan Ritchson und Pablo Schreiber, der wirklich jeden Winkel des klaustrophobischen Settings nutzt, um bloß keinen Messerstich zu verpassen. Ein wortlos erzählter Gefängnisausbruch zu den Klängen von "Nights in White Satin" von The Moody Blues brennt sich ebenfalls ins Gedächtnis ein.
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Das Drama ist zäh, die Action macht Spaß
Als weniger ergiebig stellt sich das Zeitlupen-Gepose heraus, das fast alle Figuren virusartig befällt. Man kann nur so viele Zeitlupen-Schreie und Zeitlupen-Tränen ertragen, bevor die Gedanken wandern. Wenn also die Verhaftung von Miller künstlich derart in die Länge gezogen wird, dass selbst Fleetwood Macs Meisterwerk "The Chain" anfängt zu langweilen, wünscht man sich eine effizientere visuelle Erzählweise herbei.
Der um ein Vielfaches bessere Silent Night bot beispielsweise wesentlich mehr Einfallsreichtum und Abwechslung in der Bildsprache, um seine Oper des Schmerzes zu komponieren. Ein Vergleich mit Action-Genie John Woo ist aber vermutlich unfair. Motor City gelingt als Experiment nicht durchweg, dafür sind die Momente des menschlichen Dramas zu schwerfällig und zäh. Erst wenn Alan Ritchson die Patronen seiner Schrotflinte füllt, findet der Film einen halbwegs organischen Rhythmus und macht ordentlich Spaß.
Wir haben Motor City beim Filmfestival in Venedig gesehen, wo er diese Woche seine Weltpremiere feierte. Einen deutschen Starttermin gibt es noch nicht.