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Starre, zerbrechliche und wandelbare Menschen

04.11.2015 - 18:43 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Filmausschnitt "Last Days of Freedom"
Living Condition LLC
Filmausschnitt "Last Days of Freedom"
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Im dritten Teil meines ausführlichen Berichtes verschlägt es mich in an einen Ort für Sexualstraftäter, einen Ort für Irre in Mexiko, in eine betrübte Stadt, zur Aktmalerei, nach Ungarn und wie immer ganz nah heran an die echten Gefühle der Menschen.


Donnerstag 29.10.2015

Für den dritten vollen Tag des Festivals nehme ich mir vor, einen Gang zurückzuschalten. Heute stehen nur 3 Vorführungen auf dem Programm und am Abend entscheide ich mich, als Ausgleich gegen das doch viele herumsitzen und konzentrierte Informationsaufsaugen, dafür eine Sportsession einzuschieben sowie Zeit mit dem Verfassen meiner Tagebucheintragungen zu verbringen.

Der Donnerstag beginnt für mich um 11 Uhr mit einem thematisch zum Hauptfilm passenden kurzen Einblick in eine besonders fremde Lebenswelt. Ich lausche in Amharisch  gesprochenen Worten einer jungen blinden äthiopischen Mutter im Kurzfilm "The Cure" , während ich die englischen Untertitel lese. Auch das ist wohl etwas, was ich selten so geballt erlebe, wie in den jährlichen DOK-Wochen, den Klang und Rhythmus anderer Sprachen.

An dieser Stelle sollte ich wohl erwähnen, dass es für alle Filme, welche in der größten der 4 Festivalspielstätten, dem "Cinstar" aufgeführt werden, kostenfreie Kopfhörer gibt, über die eine Synchronübersetzung der Filme, wie auch der anschließenden Interviews, erfolgt. Der Klang der Originalsprache geht bei Benutzung der Kopfhörer natürlicherweise allerdings verloren.

Die blinde äthiopischen Mutter zeigt, dass man auch in recht trostlosen Situationen sehr hoffnungsvoll das weitere Leben in Angriff nehmen kann. Eine emotionale Stärke, wie sie im darauffolgenden "Train to Adulthood"  nicht unbedingt zu finden ist. Ja, in diesem mit schönen Bildern aufwartenden Film, welcher mich nach Ungarn führt, vermisse ich ein wenig die ganz starken Momente. Das langsam aufkeimende Drama der Familie, in der das Geld vorn und hinten nicht mehr langt, wird fast schon beiläufig eingefangen. Der Film verharrt ein wenig zu sehr in der Harmonie des von Kindern organisierten Eisenbahnbetriebes, der eine Jugend beschützende Heimat ist. Insgesamt hätten ein paar mehr aussagekräftige Sequenzen und mehr Fokus auf die Familie aber insgesamt gut getan.

#dokdok #DOK140 Kann die schmerzlichen Situationen leider nicht gänzlich wirkungsvoll einfangen. Trotzdem ok. "Train to Adulthood"


Dem leicht unterspanntem Start folge nun aber sofort ein eindrucksvolles Dokumentar- Highlight. Nach einer kurzen, gelungenen philosophischen Reflexion über das Glück und dessen unterschiedlicher Auffassung (Perser vs. Deutsche Auffasung) im Kurzfilm "Khoshbakhti" , bringt mich der folgende Langstreifen ganz nah an den Menschen und seine Körperästhetik heran. Einerseits geht es nun in "Naked Beauty (Akt)"  hautnah an das Studium menschlicher Konturen. Andererseits jedoch viel mehr um die äußerst persönlichen und nicht so gewöhnlichen Lebensumstände der 4 Persönlichkeiten, die für Kunststudenten und Zeicheninteressierte regelmäßig als nacktes fast regungsloses Zeichenobjekt zur Verfügung stehen. In ruhige Bildern eingebettet, werden dabei vergangene Dramen, Sehnsüchte und Schicksale ans Tageslicht befördert, die den Zuschauern im Saal äußerst intensiv bewusst machen, wie fragil das menschlich Leben ist. Der Kontrast zu den im Film enthaltenen Lebensgeschichten, zum eigenen doch glücklicherweise recht behüteten Leben, verpasst dem ein oder anderen sicherlich eine gewisse Erdung und schafft Bewusstsein darüber, welche Komplikationen und Unwegsamkeiten das Leben auch mit sich bringen kann. Die Bilder und Geschichten wirken noch Tage später intensiv bei mir nach. Trotz der immensen Dokuflut, welche ich mir mit meinem Programm selbst auferlegt habe.

#dokdok #DOK140 "Akt" schlägt gekonnt Brücken zwischen der Ästhetik des nackten Körpers, der Kunst und der Zerbrechlichkeit der Menschen.

Meinen kurzen DOK-Tag beschließ ich mit "Overgames", ein Film der mir schon vor Festivalbeginn aufgefallen ist und auf den ich mich auf Grund der Thematik schon echt freue. Es geht um Bewusstseinsprogrammierung durch Medien. Speziell darum, ob bestimmte Spielshows dafür eingeführt worden sind, um den Menschen umzuerziehen. An sich ein spannendes Feld, welches einiges an Dokupotential bieten sollte. Als die Doku beginnt, wird mir gleich positiv bewusst, dass die Vielfalt an Dokus und deren Machart wirklich groß ist und diese gerade gänzlich anders ist, als die diese Woche bereits Gesehenen. Leider weicht diese Freude im Verlaufe der Doku allmähliche Ernüchterung. So leidet "Overgames" an vielen Makeln. Zuerst ist zu erwähnen, dass streckenweise (was bei 165 Minuten Laufzeit einiges an Strecke macht) die Art der Aufbereitung sehr trocken und uninspiriert ist. Was noch vertretbar wäre, doch die Spurensuche, Anführungen und somit die Beweisführung der anfangs aufgeführten Thesen, kommt meinem Gefühl nach nicht vom Fleck. Der Fiilm treibt dahin, wird zum Glück des öfteren durch Archivmaterial der skurrilen Spieleshows aufgelockert und schweift in wirklich interessante Details ab, die Thesen indes werden letztlich jedoch offensichtlich so nicht bestätigt. Der Filmemacher beharrt jedoch auf ihnen, dreht sich fröhlich damit im Kreis herum und lässt dafür andere immens Interessante Betrachtungen, der Funktion und Sinn dieser Spielshows außer acht und links in den Archiven liegen. "Brot und Spiele" ist zum Beispiel ein markanter Ausdruck, der mir während des Filmes in den Gedanken aufpoppt. Den einzubringen, hätte sich sicherlich gelohnt. So bleibt das ganze ein Sammelsurium interessanter Geschichts- und Realitätsdetails, allerdings ohne ein schlüssiges Gesamtkonzept mitzuliefern.

#dokdok #DOK140 Trotz einiger interessanter Aspekte und gutem Ansatz,bleibt alles ein eher unverwertbares anstrengendes Gemisch. "Overgames"

Kampf des Regisseurs mit einer Kiste Filmmaterial

Freitag 30.10.2015

Heute morgen bin ich den Tag entspannt angegangen und finde mich erst 13:30 Uhr in den Festivalkinos ein. Dafür geht es dann auch gleich gefühlsintensiv los. "Grozny Blues"  führt mich auf die Spuren eines vergangenen Krieges und in eine weit entfernte Stadt im Osten Europas. Der Fokus liegt dabei nicht auf der akribischen Aufarbeitung der Fakten rund um die beiden Tschetschenienkriege, sondern wie auch schon der Film von der Krim am Dienstag, auf die Menschen vor Ort und deren Stimmungen, ihren Erlebnissen, ihren Geschichten, ihren Blickwinkeln, ihrer momentanen Situation. Aber natürlich gibt es auch das eine oder andere derbe Material von Toten und der Zerstörung aus Zeiten des Krieges zu sehen. Das geschehene Gräuel soll nicht vergessen werden, denn, so ist zu vernehmen, der russischen Verwaltungsregierung liegt anscheinend viel daran, die Geschehnisse des Krieges lieber unter den Teppich zu kehren. Die Stadt Grosny  wirkt an vielen Stellen sehr modern, mit ihren neuen Hochhäusern, ihrer modernen Moschee und doch ist sie noch immer geprägt vom daniederliegenden kulturellen Leben und von politischer Zwiegespaltenheit zwischen Regierung und Bevölkerung, weit entfernt von der Lebendigkeit früherer Zeiten. Gerade mal ein Club für Livemusik besteht in der ca. 270 000 Einwohner Stadt und auch diesem schaut man beim Sterben zu. Darüber hinaus spielt die Rolle der Frau im vom muslimischen Glauben geprägten Kulturkreis eine tragende Rolle in "Grozny Blues" und wird eingehend beleuchtet. Der letztlich entstehende Gesamteindruck ist gar nicht so leicht in Worte zu fassen. Die Lage vor Ort ist komplex, so viel nehme ich mit. Religiöser und politischer Druck reiben stark an den Menschen und es fehlt an wirklichen Perspektiven. Starke Bilder begleiten mich mit aus dem Saal und im Gepäck einige intensive Eindrücke der Gefühlswelten von Menschen, welche in einer diffusen Ungewissheit leben.

#dokdok #DOK140 Brutale Machtdemonstration die zu vergessen droht, starke Frauen und Lollipops als metaphorisches Schwert. "Grozny Blues"

Im nächsten Programmpunkt geht es um einen Menschen mit einer schlimmen Krankheit (ALS) , der seinen Lebensweg meistert. Eigentlich ein Steilvorlage für einen Film, der zu Nachdenklichkeit anregen könnte. Aber nein, der Protagonist scheint resistent gegen Nachdenklichkeit. Das einzige tiefgründige, was er über seine Krankheit auszusagen hat, ist, "Es nervt, wenn man weiß, dass man langsam sterben muss." Der Rest des Filmes ist reine Selbstdarstellung, unreflektierter Narzissmus, jede Menge Eyecandy, billige Witzigkeit, noch schnell ein Kind in die Welt setzen, ohne dass man sich selbst darum kümmern könnte, weiter Nervengifte mittels künstlicher Ernährungszufuhr zu sich nehmen (egal in welchem Stadium der Krankheit man sich befindet) und letztlich Leute mit der Intention inspirieren, dass das Leben, egal wie krank du bist, einfach ein skurriler Film ist, den es so easy wie möglich zu meistern gilt. Für mich ist das oberflächlicher Bilderrausch deluxe. Sorry, mir reicht es! Ich verschwinde vor dem Schlussapplaus nach dem Moto: kein Applaus für Energievampire. Interessanterweise passte der Vorfilm zum Hauptfilm. Da hatte der Filmemacher aus reinem Zufall im Dunkel mehrere Zeichnungen angefertigt, um sie dann diffus übereinander zu animieren. Was in einen einfach nur wirren anstrengenden 2 Minuten ohne jeglichen Mehrwert mündete.

#dokdok #DOK140 Der Klassenclown erkrankt schwer, bleibt trotzdem in meinen Augen fundamental ignorant. Antiphilosphie in "TransFattyLives"

Zum Glück habe ich noch 2 weiter Vorstellungen mit nachdenklichen Zügen auf dem Plan. Zunächst führt es mich doppelt nach Mexiko. Zunächst zeigt "Absences"  das Kurzportrait einer verzweifelten Frau, welche seit Jahren auf der Suche nach ihrem Mann und ihrem Sohn ist, die gekidnappt wurden und mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr am Leben sind. Trauriger, beklemmender Alltag in Mexiko. Trotz ebenfalls nicht minder trauriger Ausgangslage ruft der anschließende Film ein wenig Mut und Hoffnung auf den Plan. Denn "Dead when I got here"  ist der einfühlsame Bericht über das bewegte Leben eines Geläuterten, der sich aus den tiefsten Tiefen, in die eine Seele stürzen kann, im letzten Moment wieder in Richtung Licht und somit Rechtschaffenheit aufmachte und im dadurch wiedererlangten Leben, abseits von Kriminalität und Drogen, anderen die Hände reicht. Auf dass diese die Möglichkeit haben, sich aus ihrem eigenen Elend der geistigen Umnachtung zu erheben. Diese Doku liefert Einblicke in die Ränder der mexikanischen Gesellschaft, an einen Ort, an dem wegen heftiger psychischer Diskrepanzen an den Rand der Gesellschaft Gedrängte eine letzte Zuflucht und Fürsorge finden.

#dokdok #DOK140 Verdrogter krimineller Mexikaner landet völlig von Sinnen im Irrenhaus. Gutes Portrait des Geläuterten. "Dead when I go here"

In meiner Zeitplanung habe ich an dieser Stelle leider ein Fehler gemacht, denn ich habe den nächsten Programmpunkt zu dicht an die gerade eben gesehenen Filme gelegt. Die reinen Spielzeit als Planungsgrundlage zu nehmen, reicht leider nicht. 5-10 Minuten verzögerter Start. 2 Minuten Trailer, ca. 10 Minuten Q&A nach dem Kurzfilm und dann muss ich noch zum anderen Festivalkino in der Innenstadt, den "Passage Kinos", hinüber radeln. Ich verlasse also schon knapp 5 Minuten vor Ende des Films den Saal. Kann meinen Applaus leider nicht beisteuern und auch ein mit Sicherheit aufschlussreiches Interview geht mir verloren. Aber die folgenden 2 Sichtungen darf ich einfach nicht verpassen. Und zum Glück, muss ich sagen, sitze ich auf einem bequemen Platz im "Wintergarten"-Saal. Beide Filme markieren, neben dem Film aus Grosny, die beiden komplett grandiosen, wenn auch heftigen Höhepunkte des Tages.
Zunächst bekomme ich in einer exzellent animierten Optik einen unglaublichen Tatsachenbericht erzählt, bei welchem einem zunächst die Spucke leicht wegbleiben kann und es zum Schluss einfach nur die Sprache verschlägt. Last Day of Freedom beginnt mit einem Mann, der erzählt er sei früher immer für die Todesstrafe gewesen. Durch ein Erlebnis in direktem Bezug zu einem Verwandten, sieht er den Umgang mit dieser Art der Bestrafung mitlerweile jedoch in einem ganz und gar andere Licht. 30 Minuten tragisch spannende Geschichte folgen. Während des Abspanns schwebt ein betroffenes Schweigen durch den Saal. Wer vorher schon Zweifel an den USA und ihrem Rechtssystem hatte, dem ist dieser wichtige Film sicherlich die letzte Bestätigung.

#dokdok #DOK140 Gelungene aufwendige Animationsarbeit, die inhaltlich massive Fehler im Todesstrafenystem offenlegt. "Last Day of Freedom"

Der nun folgende Festivalbeitrag "Pervert Park"  dreht sich mit seiner Hauptthema, einem Sozialprojekt für Sexualstraftäter, ebenfalls um den Umgang mit Straftätern in den USA. So ist man in den Staaten, einmal als Sexualstraftäter angeklagt, für immer öffentlich gebrandmarkt und muss mit nicht unerheblichen Einschränkungen in seinem Alltag rechnen. Das ist bei eindeutigen Vergehen recht nachvollziehbar, erstreckt sich jedoch, wie in der Doku sehr deutlich wird, auch auf zweifelhafte Fälle. Was davon abgesehen "Pervert Park", als Portrait einer 120 Menschen großen separierten Wohnanlage für registrierte Sexualstraftäter so interessant macht, ist die Suche nach den Einflüssen, die Menschen zu ihren Taten möglicherweise und eindeutigerweise verführten. Es ist ein Suche nach anteiliger Unschuld der Schuldigen. Es ist der Blick auf den Menschen hinter der Tat. Es ist das Ausschauhalten nach komplexeren Zusammenhängen. Zum Teil sehr heftige Lebensgeschichten werden bei dieser Suche den Interviewten entlockt und dem genauen Zuhörer entfaltet sich ein recht differenziertes Bild an psychologischen Faktoren, welche die Handlungen der jeweiligen Täter bestimmten. Der Zuschauer im Saal sollte dabei auch nicht aus Pappe sein, denn leicht verdaulich ist dieses eindringliche, dokumentarische Werk sicherlich nicht. Was ich persönlich am Schluss mitnehme, ist, dass die Restriktionen gegen Täter im Grundbedürfnis nach Schutz sicherlich ihre Berechtigung haben, die komplette lebenslängliche Stigmatisierung und das über einen Kamm scheren der Täter sowie das Ausschließen jeglicher Art von Rehabilitation jedoch genauso falsch ist wie die Taten selbst. Dieser Ansatz scheint mir eine Kapitulation vor der Aufgabe einer Gesellschaft, Menschen behutsam sozial zu formen und moralisch zu stärken und im Entwickeln einer festen Persönlichkeit unter die Arme zu greifen. Vertrauen muss sicherlich niemals vorbehaltlos sein, aber ein Minimum an Vertrauen braucht es schon, um etwas Freiraum zur Selbstentwicklung zu geben. Es ist traurig wie in den USA wohl aus ökonomischen Beweggründen heraus, Menschen einfach abgeschrieben werden.

#dokdok #DOK140 In "Pervert Park" geht es um harte Schicksale, menschliche Verfehlungen und die Auswirkung profitmaximierter Strafverfolgung.


Hier gehts zum 4ten Teil: Böse Geister, extreme Kindheiten und Gayeltern

P.S.: Wie findet ihr es eigentlich, dass man fast keinen Film den ich hier vorstelle und empfehle sich im Moviepiloten vormerken kann, da noch keine Einträge vorhanden sind?

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