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Upstream Color oder "Filme: Warum eigentlich?"

29.08.2015 - 09:00 Uhr
Mit Shampoo für den Seelenfrieden
ERBP
Mit Shampoo für den Seelenfrieden
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Vom Sieg des Bauchgefühls. Ein wirrer Text über einen wirren Film.

Als Kind dachte ich, Filmszenen müssten in chronologischer Reihenfolge gedreht werden: Ein Charakter sagt etwas. Schnitt. Die Kamera schwenkt auf einen anderen Charakter. Der sagt etwas. Wieder Schnitt. Und so weiter, hin und her. Es gibt nicht viele Dinge, die ich mit dem Drehbuchautor, Regisseur, Schauspieler, Cutter, Musiker und vermutlich auch Superheld Shane Carruth gemein habe, aber aus einem Interview weiß ich, dass es ihm eine Zeit lang genau so ging. Allerdings bedeutend länger als mir, denn er schaffte es immerhin, einen ganzen Film zu drehen, ohne es besser zu wissen: Für die Dreharbeiten zu Primer brauchte er 2004 somit deutlich länger als nötig gewesen wäre, da er nach beinahe jeder Zeile die Einstellung änderte. Jeder Regisseur mit Erfahrung hätte sich beim Zusehen die Haare ausgerissen.

Neun Jahre später hatte Carruth am Set seines zweiten Films ein bisschen dazugelernt, zumindest wurden Gesprächsbeiträge nicht mehr separat voneinander aufgenommen. Und doch hätte es genug Grund zum Haareausreißen gegeben. Denn Upstream Color missachtet munter so ziemlich jede Regel des Filmhandbuchs. Die Erzählstruktur ist fast gänzlich unüberschaubar und nur etwa 5 der 96 Minuten Laufzeit enthalten Dialoge. Aber Carruth hat seinen Film nicht der Provokation wegen so gestaltet, nicht, um anzuecken oder aus Prinzip anders zu sein. Sondern einfach nur weil ihm danach war. Weil sein Bauchgefühl es ihm sagte. Und das prägt auch das Endergebnis: Upstream Color ist ein Film vom Bauchgefühl des Regisseurs für das Bauchgefühl des Zuschauers. Man sollte ihn nur mit leerem Magen ansehen.

Ich weiß, dass nur die Wenigsten unter euch den Film gesehen haben. Das ist aber nicht schlimm, denn ich bin mir ab und zu auch nicht sicher, ob ich Upstream Color wirklich gesehen habe oder mir nur jemand wiederholt psychedelische Drogen in mein Müsli gemischt hat. Die Handlung ist entweder sehr einfach oder unglaublich kompliziert, je nach Sichtweise. Im Zentrum steht eine Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen, die sich in einem rätselhaften Kreislauf gefangen finden - ein Kreislauf, der in ihnen unerklärliche Verbindungen zu anderen Menschen und Tieren geöffnet hat. Nachdem ihnen am Anfang des Films Emotionen und Erinnerungen geraubt wurden, kämpfen sie nun gemeinsam um Selbstbestimmung - aber sie werden immer wieder zurückgeworfen. Ihre Verbindung zu dem Kreislauf zwingt ihnen Angst, Wut und Schmerz auf, ohne dass sie eine Quelle für ihre Gefühle erkennen könnten.

Wenn ich wollte, könnte ich mir seitenlange Analysen der Handlung durchlesen, Diagramme anfertigen, beim Anschauen immer wieder pausieren, um Bezüge zu setzen… Aber wieso das tun, wenn ich mich auch einfach fallen lassen kann? Wenn ich mich verlieren kann in der Grenzenlosigkeit der Geschichte? Denn Upstream Color ist grenzenlos, lässt sich nie einkesseln, nie vom Regelbuch Schnittduktus oder Struktur bestimmen. Es ist ein Film so entfesselt und einzigartig, es scheint eigentlich unmöglich, dass er überhaupt Sinn ergibt. Und vielleicht bin ich jedes Mal, wenn ich ihn wieder sehe, auf der Suche nach einer Antwort darauf, wie das kommt, wie dieser Film eigentlich funktioniert. Dummerweise könnte ich auch genauso gut fragen, wie das Universum funktioniert.

Wer sich auf einen Film einlässt, der lässt sich ein auf Grenzenlosigkeit. Auf eine Verbindung über Logik und gesunden Menschenverstand hinweg. Ansonsten ist der einzige Nutzwert, den man aus einem Film ziehen kann, pure Information. Nur bringt uns Information nicht zum Weinen. Information treibt uns nicht nachts ans Fenster und morgens aus dem Bett, Information schafft keine Gefühle. Was kann es also für einen besseren Lieblingsfilm geben als einen, der ohne Information funktioniert? Der mich wortlos und ohne zu fragen vereinnahmt und die Wände zwischen dem, was mit mir und im Film passiert, langsam ausblenden lässt? Weil manche Gefühle eben - wie in Upstream Color - einfach so kommen, ohne erkennbaren Grund. Oder ist das Starren auf fiktive Licht- und Tonsignale etwa ein logisch nachvollziehbarer Grund, für eineinhalb Stunden fast seinen Verstand zu verlieren?

Und so passiert es. Plötzlich bin ich es, der sich im Kreislauf gefangen findet, ich, der Angst bekommt, seinen Verstand zu verlieren, ich, der in der gruseligsten Szene des Films im Küchenschrank nach einem Messer kramt, auf der Suche nach der einzigen Möglichkeit, die fremden Wesen unter meiner Haut herauszuschneiden. Wieso auch nicht, wenn alles grenzenlos ist? Wieso auch nicht, wenn eine Geschichte mir durch eine Verbindung, die nur aus einem Bildschirm besteht, Emotionen aufzwingt, die nicht meine sind? Fiktion, Wirklichkeit, alles wird bedeutungslos. Selbst wenn das alles nicht real ist, selbst wenn wir nur in unseren Köpfen leben... ist das nicht so schlimm. Immerhin leben wir überhaupt.

Upstream Color ist ein Wirrwarr. Das Leben ist ein Wirrwarr. Aber hattet ihr schon vergessen, dass Upstream Color auch eine Liebesgeschichte ist? Jeder Wirrwar wird erträglicher, sobald wir jemanden haben, der uns auf dem Weg hindurch an die Hand nimmt. Und auf der Suche nach so jemandem machen wir uns auf die Suche nach Ordnung im Chaos, nach Hoffnung in der Angst. Niemand ist je vorher unseren Weg gegangen und deshalb konnte auch nie jemand Wegweiser aufstellen. Uns bleibt nichts übrig als dem Shane Carruth-Modell und unserem Bauchgefühl zu folgen. Und wenn es die Farben wieder stromaufwärts spült, der Kreislauf uns einholt und die nächste Welle der Angst kommt, dann greifen wir uns an den Händen und nach einer Axt, verbarrikadieren alle Türen und Fenster, schließen uns im Bad ein und verkriechen uns in der Badewanne. Zwei Atemgeräusche in der Stille und ein Kratzen an der Tür. Ein Prickeln im Nacken. Aber wir sind nicht allein.

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Dieser Community-Blog ist im Rahmen der Aktion Lieblingsfilm 2015 entstanden. Wir bedanken uns ganz herzlich bei allen Medienpartnern und Sponsoren für diese Preise:


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