Vor 30 Jahren erschien ein monumentales Sci-Fi-Meisterwerk, das mich für immer verändert hat

04.10.2025 - 14:26 Uhr
Szene aus The End of Evangelion
Leonine
Szene aus The End of Evangelion
0
0
Als ich in den 90er Jahren anfing, eine damals neue Sci-Fi-Serie anzusehen, hatte ich keine Ahnung, wie sehr sie mich formen und als Filmsnob radikalisieren würde.

Kennt ihr das? Ihr seht euch einen Film oder eine Serie an und – hoppla! – das Leben ist für immer verändert. Ups. Ich schätze, diese Erfahrung und dieser Titel begleiten mich jetzt bis ans Ende meiner Tage. So erging es mir jedenfalls als Jugendlicher in den 90ern, als ich die Veröffentlichung der psychologischen Sci-Fi-Saga Neon Genesis Evangelion mitverfolgte. Melancholische Teenager und gebeutelte Künstler, die sich mit ihrem Werk durch eine Depression arbeiten, ergeben eine explosive Mischung, stellt sich heraus.

NGE feierte am 4. Oktober 1995 auf TV Tokyo Premiere, auf den Tag genau vor 30 Jahren. Doch der Ausnahme-Anime hatte nicht nur einen ungeahnten Effekt auf mich persönlich, sondern auf die gesamte Unterhaltungsindustrie seines Heimatlandes.

Sci-Fi-Meilenstein Neon Genesis Evangelion: Die Leiden des jungen Shinji

Wenn Leute anfangen, über Evangelion zu schreiben, liest man gerne, dass es "im Gegensatz zu früheren Mecha-Animes" eine anspruchsvolle Dekonstruktion des Genres darstellte. Das stimmt nicht ganz, denn Serienschöpfer Hideaki Anno wurde maßgeblich von Titeln wie Mobile Suit Gundam oder Space Runaway Ideon beeinflusst, die bereits tief in die Psyche ihrer Charaktere eindrangen und filmisch wie erzählerisch spannende Gefilde ausloteten. Annos Anime fühlte sich nur noch eine Spur persönlicher an und besitzt das Potenzial, nachhaltigen emotionalen Schaden anzurichten. In a good way.

Mir gefällt, wie es ein Video vom YouTube-Kanal Beyond Ghibli  vor einigen Jahren formulierte: "Während Evangelion auf einen Höhepunkt zusteuert, der so einzigartig, persönlich und verwirrend ist, hört die Frage auf den Lippen der Zuschauenden auf 'Was ist hier los?' zu sein und wird unweigerlich zur Frage einer anderen Art: Geht es dir gut?" Anno ging es nachweislich nicht gut. Nach dem Misserfolg seiner Abenteuerserie Nadia - Die Macht des Zaubersteins verschlimmerte sich sein Gemütszustand und hätte er durch einen befreundeten Produzenten nicht die kreative Carte blanche mit Evangelion erhalten, wäre er heute vielleicht gar nicht mehr hier.

Die desolate Endzeitwelt der Serie stellte den perfekten, metaphorisch aufgeladenen Nährboden für eine zermürbende Story über einen verunsicherten Teenager mit Daddy-Issues, der als Pilot rätselhafter Riesenroboter das Schicksal der Welt auf seinen Schultern trägt. Dass Shinji Ikari (Megumi Ogata) kein schillernder Anime-Held ist, der sich mit der Kraft der Freundschaft zusammenreißt, sondern ein unscheinbarer, weinerlicher Feigling mit echten Macken, weiß immer noch anzuecken. Und das, obwohl wir im Zeitalter der psychologisch gebeutelten Protagonist:innen mit trendy Traumata leben. Die ungeduldige, unempathische Meme-Phrase "Get in the fucking robot!" hört man im Verbindung mit Shinji trotzdem nach wie vor.

Evangelion versuchte nie, Shinji durch seine Probleme sympathisch wirken zu lassen oder Mitleid für den Proto-Incel zu erzeugen. Evangelion versuchte nur, emotional ehrlich zu sein und seinem heranwachsenden (oder emotional stehengebliebenem) Publikum den Spiegel vorzuhalten. Bis es weh tut. Man legte damit nicht nur einen Finger in diverse Wunden, sondern fistete sie regelrecht. Immer wieder muss man in ausgedehnter awkwardness mit den Charakteren sitzen, den Cringe-geschwängerten Schmerz mit aushalten, bis einem der wiederholte Weltuntergang gar nicht mehr wie das schlimmstmögliche Szenario vorkommt.

Hurra, die Welt geht (schon wieder) unter!

Neon Genesis Evangelion zieht einen mit spannenden Sci-Fi-Konzepten vom Kaliber 2001: Odyssee im Weltraum, einer metaphysischen Mystery-Story über rätselhafte Monster-Engel und Geheimorganisationen sowie ansprechenden Designs halbmechanischer Mechs in den Bann. Die etablierte Mission zur Rettung der Menschheit gerät zum Ende der Serie hin jedoch immer mehr in den Hintergrund, um sich auf den Kern der Story zu konzentrieren: die Schwierigkeit (beziehungsweise Unmöglichkeit, je nach Zynismus-Level) eine Verbindung zu anderen Menschen aufbauen zu können. Dabei zeigt bereits die allererste Szene in Folge 1, wie Shinji (erfolglos) versucht, jemanden per Telefon zu erreichen und gibt damit die Hauptproblematik der Serie preis.

Dass das experimentelle, auf die Psyche der Charaktere heruntergebrochene TV-Finale nur aufgrund von Budget-Problem so entstand, ist ein weiterer unwahrer Mythos. Evangelion sollte immer so oder so ähnlich ausgehen, es fehlte nach Produktionsengpässen nur etwa eine Episode, um zur Seelenverschmelzungs-Apokalypse hinzuleiten, wie wir es im filmischen Alternativ-Finale The End of Evangelion mitbekommen. Ein notorisch unbarmherziges Filmerlebnis, das selbst unter Cine-Snobs ohne Anime-Connection einen gewissen Ruf genießt. Auch ich musste nach dem ersten Ansehen (mit japanischem DVD-Import und ausgedruckter Übersetzung aus dem Internet im Schoß) erstmal ein paar Stunden die Decke anstarren.

Es ist wohl auch kein Zufall, dass die Fanbasen von Evangelion und dem surrealen Kultkrimi Twin Peaks gewisse Überschneidungen aufweisen. Beides doppelbödige Genre-Fallen, die unter ihrem eigenen Gewicht regelrecht implodieren. Falls dieses Doppel-Fantum schon als Klischee durchgeht, erfülle ich es inklusive Black-Lodge-Zauberspruch "Fire Walk With Me" auf dem linken und siebenäugigem SEELE-Logo auf dem rechten Arm jedenfalls. Vermutlich waren mit der Sozialisierung durch eine Serie wie Neon Genesis Evangelion die besten Voraussetzungen geschaffen, um kurz darauf die Filmografie von David Lynch und weiteren wundervollen Weirdos zu entdecken.

Erstaunlicherweise ist Evangelion jedoch trotz gewissem Arthouse-Anspruch mit lynchigen Allüren alles andere als ein obskurer Titel – schon gar nicht in Japan. Ab Mitte der 90er wollten unzählige Animes in die gigantischen Fußstapfen dieses wirren Werkes treten. Nicht nur offensichtliche Nachahmer wie The Candidate For Goddess, Gasaraki oder Darling in the Franxx, die allesamt unerträglich sind (aber wenigstens verkraftbarer als das jahrelang angedrohte US-Remake). Sogar der viel spätere Dark-Fantasy-Hit Attack on Titan oder die experimentelle Magical-Girl-Saga Puella Magi Madoka Magica lassen die weitreichenden Einflüsse Evas bis heute erahnen.

Kunstvolle Ambivalenz mit mannigfaltigen Interpretationen erfand Evangelion natürlich nicht. Es hatte nur eine bessere Chance, in Japan zu entstehen, wo Mehrdeutigkeiten bereits in die Sprache hineingebacken sind, Twin Peaks die größten Fans hatte und Genrekost schon immer enger mit der Avantgarde verbunden war als andernorts. Man denke an Shinya Tsukamotos kafkaeseke Metall-Symphonie Tetsuo the Iron Man oder die seltsam-kunstvollen Pink-Filme der Sasori-Reihe mit Meiko Kaji.

Anno Domini 202X: Evangelion heute und darüber hinaus

Eine weitere Sache, die Twin Peaks und Evangelion neben kultischen Anhänger:innen gemeinsam haben: Beide erhielten Jahre nach ihrem kontroversen Finale zuerst einen aufreibenden Kinofilm und viel später eine Neuauflage mit ähnlicher Intention. Sowohl Hideaki Annos Rebuild of Evangelion-Filmreihe als auch David Lynchs Twin Peaks: The Return setzen auf radikale Anti-Nostalgie. Die Message beider Werke lautet am Ende: Man kann die Zeit nicht zurückdrehen, wir können nicht zurück nach Hause, Regress ist toxisch.

Für Evangelion bedeutete das auch, dass das Reboot erneut den aktuellen Gefühlszustand seines Machers und seine Beziehung zum Werk widerspiegelte. Der zynische, cinematische Mittelfinger des (nichtsdestotrotz brillanten) End of Evangelion wurde 2021 durch ein versöhnlicheres Armageddon samt Neuanfang in Evangelion: 3.0+1.0 - Thrice Upon a Time überschrieben. Für viele nicht der klassische Depri-Eva-Vibe, aber das Zeichen eines geheilten Schöpfers, der seinem Publikum zuletzt mitgeben möchte, was er schon im (teilweise abgetanen TV-Finale) sagen wollte: Dass es möglich und vor allem in Ordnung ist, in Ordnung zu sein. Außerdem: Geht Gras anfassen und Leute küssen, ihr Nerds!

Trailer zur Netflix-Neuveröffentlichung von Neon Genesis Evangelion:

Neon Genesis Evangelion - Netflix Trailer (Deutsch) HD
Abspielen

Jahre nach dem Reboot gibt es immer noch unzählige Produkte zum Franchise zu kaufen. Erst diese Woche schickte mir eine in Japan lebende Freundin Bilder von einem Automaten mit Eva-Küchlein im Glas. Darüber hinaus bot eine Burger-Kette jüngst NGE-Toys an – ironischerweise als Teil des Happy Meals. Ich selbst habe im letzten Jahr eine Pilgerreise nach Hakone unternommen, wo der Schauplatz Neo Tokyo-3 stehen würde, der voller Evangelion-Stationen für Fans und Tourist:innen steckt. Evangelion lebt also, auch wenn es nach wie vor befremdlich wirkt, dass ein so persönliches, wichtig wirkendes Werk gleichzeitig eine so schamlose Kommerzschleuder sein kann.

Immerhin ist Neon Genesis Evangelion selbst 30 Jahre später noch immer nicht ganz aus der Welt – wenngleich Anno sich vielleicht wünschen würde, dass wir es endlich ruhen lassen. Als die Originalserie 2019 international zu Netflix kam, wurde sie für viele zum perfekten Binge-Begleiter des realen Mini-Weltuntergangs in der Corona-Pandemie. Eine Zeit, die einen ganz neuen Schwung Fans hervorgebracht hat und mich dazu brachte, Evangelion im Rahmen eines privaten Podcast-Projekts  zu besprechen, das sich zum Teil wie ein überfälliger Exorzismus anfühlte.

Vielleicht wird mich nie wieder ein Film oder eine Serie so berühren oder verändern wie Evangelion es getan hat, aber das ist in Ordnung. Selbst heute laden etwa junge YouTuber:innen, die sonst nur Anime-Neuerscheinungen schauen, Reaktionen auf diesen monumentalen Retro-Klassiker hoch und merken dabei, wo viele aktuellere Titel ihre Inspiration herhatten. Und noch immer weiß Evangelion mit ganz großen Ideen, noch größeren Gefühlen und einer der intimsten, konfrontativsten Schöpfer-Werk-Publikums-Beziehungen überhaupt zu faszinieren ... all's right with the world.

Die Originalserie Neon Genesis Evangelion streamt mit allen 26 Folgen plus Compilation-Film Death² und dem alternativen Kino-Finale The End of Evangelion bei Netflix. Die vierteilige Rebuild of Evangelion-Neuauflage findet man bei Amazon Prime Video.

Das könnte dich auch interessieren

Schaue jetzt Neon Genesis Evangelion

Kommentare

Aktuelle News