Im Laufe der Jahre kultivieren die meisten Kinogänger ihre persönlichen Vorlieben und Traditionen. Ich für meinen Teil gehe am liebsten allein ins Kino. Ich nutze die mir als Studentin oft zur Verfügung stehenden Mittagsstunden, um mitten in der Woche die verdunkelten Räume zu betreten wie ein Tor in neue Welten. Genau dann nämlich, wenn die meisten Leute arbeiten müssen, denn für mich gibt es kaum etwas Schöneres als leere Kinosäle. Für andere Leute hingegen ist es gerade das Gefühl von kollektivem Erleben, dass einen Besuch der Lichtspielhäuser ihres Vertrauens so besonders macht. So ging es auch den jungen Cinephilen, die sich in den Siebziger Jahren bevorzugt zu Spätvorstellungen trafen, um ihre liebsten Filme abseits des Mainstreams gemeinsam zu feiern.
Kino ist eine Lebenseinstellung
Das bald schon als Midnight Movies bekannte Phänomen entwickelte sich im Grunde als Selbstläufer, denn die gesellschaftliche Spaltung der USA in den Siebzigern ließe sich wohl mit der Heutigen ganz gut vergleichen. Hippiebewegung, Woodstock und der Vietnamkrieg forderten politischere Kunstwerke geradezu heraus. Vor allem Jugendliche und Studenten sahen gesellschaftliches Engagement und eine rebellische Attitüde als Lebenseinstellung an, als Gegenentwurf zur Elterngeneration, zur Elite, zum Mainstream.
Plötzlich zeigten die Kinos also nicht nur glanzvoll illusorische Studio-Unterhaltungsfilme, sondern auch kleine Independentproduktionen mit geringen Budgets. Vom Horror über den Western bis hin zum Musical waren alle Genres vorhanden, zusammengehalten durch ihren kleinsten gemeinsamen Nenner: den Tabubruch. Kannibalismus, ungewöhnliche sexuelle Spielarten und blutige Gewaltexzesse fanden ihren Weg auf die Leinwände. Immer wieder trafen sich die gleichen Interessierten in den einschlägigen Kinos, und so formte sich im Laufe der Zeit eine ganz eigene Subkultur von unkonventionellen Cineasten.
Skurril, skurriler, Midnight Movies
Midnight Movies konnten gar nicht skurril genug sein. In Freaks – Mißgestaltete von Tod Browning rächen sich Kleinwüchsige aus einem Zirkus für jahrelange Unterdrückung und psychische Grausamkeit, und Pink Flamingos von John Waters feierte den extravaganten Transvestiten Divine. Das Debüt Eraserhead von David Lynch ähnelte einem surrealistischen Albtraum, die ‚Doku‘ Reefer Madness von Louis J. Gasnier sollte in den Dreißigern eigentlich über Haschischkonsum aufklären, und die The Rocky Horror Picture Show war wohl der populärste aller Midnight Movies.
Den eigentlichen Startpunkt aber setzte wohl ein Film des chilenischen Regisseurs Alejandro Jodorowsky. Der ehemalige Pantomimestudent sagte einmal: „Die meisten Regisseure machen Filme mit ihren Augen. Ich mache Filme mit meinen Eiern.“ Und genau so erklärt sich wahrscheinlich auch das Zustandekommen von El Topo. Bei dem Film handelte es sich um eine Art mythischen Anti-Western auf LSD, der über zwei Stunden ohne wirklich klar strukturierte Handlung vor sich hinplätschert, aber seltsamerweise trotzdem alle Komponenten enthält, die einen Streifen erst sehenswert machen. Was für die einen ein echter Philosophiekracher, ist für die anderen zähe Langeweile. Oder auch einfach ein Film, in dem eindeutig zu viele weiße Karnickel erschossen werden.
Ausufernde Ansichten führen zu ausufernden Filmprojekten
In einer Kritik ist die Rede von den „ausufernd interpretierbaren Ansichten“ des Regisseurs, und das trifft es genau. Alejandro Jodorowsky ist schließlich bis heute eine durchaus streitbare Person. Nach einigen grandios gescheiterten Filmprojekten widmet sich der Kultregisseur mittlerweile eher dem Legen von Tarotkarten, Erforschen seines Familienstammbaums und der Verbreitung der von ihm entwickelten Psychomagie.
Aber apropos grandios gescheitert. Wären nicht einige geizige Produzenten gewesen, hätte uns Jodorowsky 1975 seine eigene Version von Der Wüstenplanet beschert, dem Roman von Frank Herbert – wahrscheinlich gleich der nächste Midnight Movie. In seinem Kopf entspann sich ein neunstündiger Epos mit Orson Welles, Gloria Swanson und Salvador Dalí in den Hauptrollen, mit Musik von Pink Floyd im Hintergrund und Set Design vom schweizer Künstler H.R. Giger, der wenig später mit der Erschaffung des Monsters aus Alien – Das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt betraut wurde. Auch diese Ideen galten wohl als eindeutig zu ausufernd, und so bekamen wir letztlich Dune – Der Wüstenplanet von David Lynch vorgesetzt. Der nennt dafür aber El Topo immerhin einen seiner Lieblingsfilme – wenn das nichts ist.
Was die Menschheit sonst noch im (Film)Jahr 1970 bewegte:
Drei Filmleute, die geboren sind
29. April 1970 – Uma Thurman, die blonde Rächerin aus Kill Bill: Volume 1
26. August 1970 – Melissa McCarthy, Brautjungfer Megan aus Brautalarm
08. Oktober 1970 – Matt Damon, Jason aus Die Bourne Identität
Drei Filmleute, die gestorben sind
29. März 1970 – Lew Kuleschow, russischer Regisseur und Entdecker des Kuleschow-Effekts
04. Mai 1970 – Piero Pierotti, italienischen Regisseur von Das Finale liefert Zorro
22. Juli 1970 – Fritz Kortner, österreichischer Regisseur von Die Büchse der Pandora
Die großen Festival- und Award-Sieger waren unter anderem
Oscar – Asphalt-Cowboy von John Schlesinger (Bester Film, Bester Regisseur)
Goldene Palme – M.A.S.H. von Robert Altman
Deutscher Filmpreis – Katzelmacher von Rainer Werner Fassbinder
Die drei kommerziell erfolgreichsten Filme
Love Story von Arthur Hiller
Airport von George Seaton
M.A.S.H. von Robert Altman
Drei wichtige Ereignisse der Nicht-Filmwelt
11. April 1970 – Start der Apollo 13 – Mission
14. Mai 1970 – Gründung der Rote Armee Fraktion
07. Dezember 1970 – Willy Brandt kniet vor dem Warschauer Ghetto-Ehrenmal