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Eine Frage der Identität

27.05.2015 - 00:00 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
In 221B Baker Street ist ein mysteriöser Brief angekommen...
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In 221B Baker Street ist ein mysteriöser Brief angekommen...
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Sherlock Holmes ist gelangweilt und den einzigen Fall, den John gerade aus dem Ärmel schütteln kann, ist der eines gestern angekommenen Briefes. Um den moviepilot- Bloglesern zu helfen, ist oben ein Foto beigefügt.

Sherlocks Augen klebten förmlich am Papier. Förmlich. Nicht wortwörtlich. (Das wäre ekelig und Teil der nächsten Blogaktion „Dein liebster Splatter-Film“)

Den Rücken gekrümmt hockte er auf seinem Stuhl. Seit acht Minuten verharrte er schon in dieser Pose während John die Zeitung las. „John, warum genau tue ich mir das hier nochmal an?“ Ruckartig schnellte sein Kopf in die Höhe, was von einem lauten Knacken seiner Halswirbel begleitet wurde.

„Sherlock, du weißt ganz genau, dass ich gerade keine Zeit habe, einen längeren Fall mit dir zu bearbeiten. Du musst dich halt mal eine Woche alleine beschäftigen.“, murmelte John.

„Eine Woche? Lächerlich. Dieses Rätsel löse ich in unter 387 Sekunden!“

„Äh.. das ist eine merkwürdig definierte Art, mir zu verstehen zu geben, dass du großartig bist, aber bitte: Leg los!“ John faltete die Zeitung in seinen Händen langsam zusammen. Es hatte keinen Sinn, Sherlock zu ignorieren. Wenn Sherlock ignoriert wurde, endete es nur damit, dass er blutbespritzt in der U-Bahn fuhr. Manchmal war er schlimmer als ein Kind.

Sherlock holte tief Luft. „Fangen wir mit dem offensichtlichen an: Die Nachricht hatte keinen Absender. Die Autorin möchte eindeutig anonym bleiben, hat den Brief aber nicht getippt sondern handschriftlich angefertigt. Sie hat Zeit investiert. Der Inhalt scheint ihr wichtig zu sein.“

„Wieso weißt du, dass es eine 'sie' ist?“

„Sieh nicht nur hin, John. Beobachte! Die Handschrift scheint ein wenig unordentlich zu sein. Jedoch erkennt jeder, der sich mit der Graphologie auskennt, dass dies nur eine aufgesetzte und keineswegs die alltägliche Handschrift dieser Person ist. Ignorieren wir die laienhaften Schlenker, ist das Schriftbild im Grunde sehr ordentlich und klar lesbar. Zum einen ist es statistisch gesehen wahrscheinlicher, dass Frauen eine schönere Handschrift haben – ich habe dazu erst vor drei Wochen einen Feldtest gemacht und in einem örtlichen Supermarkt ein kleines Gewinnspiel veranstaltet, dass das Ausfüllen einer Feedback-Karte voraussetzte. Mit den Handschriften aus dem Freitextfeld konnte ich meine Theorie belegen und mit den E-Mail-Adressen habe ich neue Follower für meinen Blog bekommen. Zum zweiten-“

„Moment, Sherlock.“, unterbrach John, jetzt hellhörig geworden. „Da kann ich mich gar nicht dran erinnern. War das der Mittwoch? Wo war ich?“

In einem Tempo , das ein genervter 47-jähriger Pendler im Berufsverkehr mitten im Stau auf der A3 letzten Dienstag als "gut durchgekommen" bezeichnet hatte - für Sherlock also nichteinmal halb so schnell wie er normalerweise redete- sagte er vorsichtig: „Im Zuge meines anderen Experimentes, hatte ich dir ein selbstgebrautes Schlafmittel verabreicht, dessen Wirkung länger anhielt, als ich berechnet hatte. Diese kleine Miskalkulation habe ich hinterher bemerkt: ich hatte dein Körpergewicht mit 7 Pfund zu wenig angenommen. Du konntest dich nach dem Aufwachen nicht mehr erinnern, also dachte ich mir, dass es besser wäre nichts zu sagen.“

Johns Augen wurden mit jedem Wort größer. Wie ein Fisch auf dem Trockenen schnappte er nach Luft: „Du hast was mit mir gemacht?“

„So war das ja nicht geplant. Seit du mit Mary zusammen bist, hast du nun mal zugenommen und jetzt lenk bitte nicht vom Thema ab. Um fortzufahren: Zum zweiten kann ich am Papier eine eindeutige Note des deutschen Frauenparfüms „Mondschein“ wahrnehmen. Das, in der Verbindung mit der Handschrift, sagt mir, dass es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um eine Frau handelt.“

John gestikulierte vage in der Luft auf der Suche nach der Überleitung von Sherlocks Geständnis, ihn als Versuchskaninchen für seine Drogenküche missbraucht zu haben, zurück zum Brief. Sein Gehirn fand absolut keine logische Verbindung, also gab er auf und fragte: „Warum kennst du in Deutschland übliche Frauenparfüme?“

Triumphierend begann Sherlock. Er hatte nur auf diese Frage gewartet. „Vielleicht erinnerst du dich, dass vor ein paar Jahren eine Serienmörderin in Manchester ihr Unwesen tr-“

„Schon gut… ich will es gar nicht wissen.“

Fast enttäuscht fuhr Sherlock fort: „Nun... wir wissen außerdem, dass die Autorin anonym bleiben möchte. Sie ist wahrscheinlich eine Person, die sich gerne hinter Usernames versteckt. An dieser Stelle kommen wir also nicht weiter. Was hat sie denn überhaupt geschrieben?“

Ungläubig starrte ihn John an. „Du deduziert seit 5 Minuten und hast dir noch nicht mal den Text durchgelesen?“

„Inhalte sind immer so nebensächlich. Die stärkere, die wichtigere Nachricht steht immer zwischen den Zeilen!“

John griff nach dem Papier und räusperte sich: „Äh… na ja. Sie schreibt: ‚Sehr geehrter Mr Holmes, es freut mich... blabla, begeistert von Ihren Deduktionen, diese Intelligenz hat nicht jeder.‘ Clever, witzig und unerwartet. Oh, na sieh einer an: Sie gratuliert zur Analyse der 243 verschiedenen Tabakaschen und betont besonders die Modernität deiner Website. Sie ist also eindeutig verrückt.“

John überflog den nächsten Absatz. „Sie bewundert, dass du dich nicht um die Meinung anderer kümmerst, sie würde dich gerne mal im echten Leben treffen, und sie mag deine Schlagfertigkeit. Bla. Bla. Das hier ist auch interessant und ich zitiere: „Ohne vierte Wände einreißen zu wollen, möchte ich sagen, dass Ihre Charakterentwicklung sehr treffend und es eine eindeutige schauspielerische Meisterleistung war. Besonders der Reichenbachfall hat es mir angetan. Das waren sicherlich die am besten investierten 90 Minuten meines bisherigen Lebens, die ich immer noch gerne ein zweites, drittes oder dreiundzwanzigstes Mal wiederhole.“ Das klingt jetzt doch sehr befremdlich in meinen Ohren…“

War dieser Brief von einer Stalkerin? John las jetzt langsamer, um auch ja kein Wort zu übersehen. „Und hier: ‚Die subtilen Anspielungen während der gesamten Serie machen das Zuschauen für einen Kenner des Originals zu einer wahren Freude.‘ Das verstehe ich nicht. Sherlock?“ ("You should put that on a t-shirt." - Magnussens Stimme aus dem Off)

„Sagtest du etwas?“

„Meine Güte! Ich habe dir gerade den ganzen Brief vorgelesen.“ Kopfschüttelnd legte er selbigen zurück auf den Tisch und griff wieder nach der Zeitung.

„Aber warum denn das? Hatte ich nicht klar ausgedrückt, dass der Hinweis nicht im Inhalt zu finden ist. Während du dein Mundwerk trainiert hast, habe ich den entscheidenden Hinweis gefunden. Man erkennt, dass der Umschlag nur auf der linken Seite vergilbt ist. Er hat also eine nicht unerhebliche Zeit auf dem Schreibtisch der Autorin gelegen. Sie war sich nicht sicher, ob sie den Brief schicken wollte oder nicht. Sie hat gezögert. Interessant. Ha! Und wenn ich mir den Briefumschlag genauer angucke…“ Sherlock wendete den Umschlag vorsichtig im Licht. „…sehe ich, dass es Kugelschreiberabdrücke gibt. Wenn ich die jetzt noch vorsichtig mit einem Bleistift schraffiere, erkenne ich vielleicht die nicht gesendete Nachricht.“ Mit einem gezielten Handgriff schnappte er sich einen Bleistift vom Tisch und begann über das Papier zu zeichnen. „Offensichtlich hat sie lange darüber nachgedacht, ob sie diese zusätzliche Information schicken möchte oder nicht. Es scheint eine Internetadresse zu sein… moviepilot.de. Beziehungsweise ein Blogeintrag? Ah. Ich komme zu der Schlussfolgerung… oh.“

John konnte das Grinsen nicht mehr länger verstecken. „Ja? Sherlock? Hast du es jetzt auch begriffen?“

„Der Lieblingsdetektiv dieser Autorin bin eindeutig ich. Ich hasse Fanpost.“



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