Neben Das perfekte Geheimnis: Das deutsche Kino 2019 berührt und schockiert

22.12.2019 - 12:00 UhrVor 4 Jahren aktualisiert
Systemsprenger und Der goldene Handschuh
Port au Prince Pictures/Warner Bros.
Systemsprenger und Der goldene Handschuh
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Das perfekte Geheimnis ist der erfolgreichste deutsche Film des Jahres. Abseits davon bot das deutsche Kino 2019 eine beeindruckende Bandbreite an herausragenden Werken.

An den deutschen Kinokassen hat sich die Komödie Das perfekte Geheimnis von Fack ju Göhte-Regisseur Bora Dagtekin zum größten Publikumserfolg 2019 entwickelt. Mittlerweile hat der Film mit einem Ensemble aus Stars wie Elyas M'Barek, Jella Haase, Wotan Wilke Möhring und Frederick Lau selbst die Zuschauermarke von 4 Millionen  geknackt.

Neben dem offensichtlichen Publikumsliebling bot das deutsche Kino 2019 aber eine beeindruckende Vielfalt. Tief berührende Dramen gehörten ebenso zu dieser Bandbreite wie Filme, die Zuschauer an moralische Grenzen gebracht und auch nach der Sichtung noch lange beschäftigt haben.

Einzelne Momente ergaben im deutschen Kino 2019 die besten Dramen

Die besten deutschen Dramen aus diesem Kinojahr blieben vor allem durch ihre kleinen Momente und kurzen Einzelszenen in Erinnerung. Da war zum Beispiel Sebastian Schipper, der sich 4 Jahre nach seinem atemlosen One-Take-Kraftakt Victoria mit dem bewegenden, auf Englisch gedrehten Road-Trip-Drama Roads zurückmeldete.

Darin zeichnet der Regisseur die besondere Begegnung zwischen einem jungen Engländer und einem jungen afrikanischen Flüchtling in Marokko erneut mit jenem Gefühl von Orientierungslosigkeit nach, das sich auch schon durch Schippers vorherige Werke wie Absolute Giganten oder eben Victoria gezogen hat.

Roads

Gemeinsam haben alle seine Filme, dass Orientierungslosigkeit bei Schipper nie mit Stillstand verbunden ist, sondern mit der oftmals frustrierenden und doch aufrichtigen Tatsache, dass seine Figuren auch gemeinsam in der stetigen Fortbewegung noch einsam und verloren sein können.

Viele eindringliche Einzelmomente, die man mittlerweile schon als Schipper-Momente bezeichnen will, ziehen sich durch Roads und ergeben vor einem dezent politischen Hintergrund das Bild zerrissener Familien und unwahrscheinlicher Freundschaften.

Im eindringlichen Stimmungskino des Regisseurs ist es hier vor allem die Darstellung von Umarmungen, die im Dunkeln gar nicht sichtbar sind oder in der Helligkeit nur eine bestimmte Anzahl an Sekunden dauern dürfen, die von Roads nachträglich in Erinnerung bleiben.

Ähnlich emotional, aber weitaus weniger greifbar geht auch Angela Schanelec in ihren Filmen vor. Mit ihren dem Stil der Berliner Schule nahe stehenden Arbeiten erzeugt die Regisseurin eine Filmsprache, die zwischen dem harten Aufprall in der Realität und der verschwommenen Flüchtigkeit eines sanften Tagtraums schwebt.

Ich war zuhause, aber...

Auch ihr 2019 erschienener Film mit dem schon so tollen Titel Ich war zuhause, aber... vertraut auf diesen Stil. Auch wenn sich im Kern der Geschichte eine Mutter befindet, die mit der rätselhaften Rückkehr ihres eine Woche lang verschwundenen Sohns umgehen muss, treibt Schanelecs Drama in die unterschiedlichsten Richtungen.

Die Montage der Regisseurin, die sich nie an Chronologie und zeitlich verständliche Abfolgen hält, stellt in Ich war zuhause, aber... Hund, Hase und Esel genauso nebeneinander wie das langsame Zerbrechen einer Beziehung, eine Hamlet-Schulaufführung und die Mutter, die über das kurzfristige Verschwinden ihres Sohnes hinaus nicht über den dauerhaften Verlust ihres Mannes hinwegkommt.

Wenige Szenen waren 2019 ähnlich berührend und so melancholisch schön wie der Moment, in dem Maren Eggert nachts über eine Friedhofsmauer steigt und sich im Mondlicht zu den Klängen einer Coverversion von David Bowies Let’s Dance auf das Grab ihres Mannes legt.

Das deutsche Kino testete 2019 die Belastungsfähigkeit des Publikums

Das deutsche Kino bewegte sein Publikum 2019 aber nicht nur tief, sondern trieb es auch an moralische Belastungsgrenzen. Ein solcher Film war dieses Jahr Systemsprenger von Nora Fingscheidt.

Im Mittelpunkt des Dramas steht das junge Mädchen Benni, die als Problemkind von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht wird und für jede soziale Institution nach kurzer Zeit untragbar wird. Erst die radikalen Methoden ihres neuen Anti-Gewalt-Trainers Micha, der selbst vor kurzem noch im Gefängnis saß, sollen dem Mädchen neue Zukunftsperspektiven bescheren.

Systemsprenger

Kaum eine andere Figur stellte im Kinojahr 2019 eine größere Herausforderung für das Publikum dar als die 9-jährige Benni. Wenn sie richtig ausrastet, und das geschieht in Systemsprenger nicht selten, verfärbt sich die gesamte Leinwand in einem knalligen Pink. Genauso wie die Regisseurin eine so zarte Farbe mit wüsten Aggressionen gleichsetzt, ist auch Benni ein wandelnder Widerspruch.

Immer wieder muss der Zuschauer seine persönliche Einstellung zu der jungen Hauptfigur des Films überdenken, wenn sich Benni von einem freundlichen, aufgeschlossenen Mädchen in eine brutale, unkontrollierbare Bestie und wieder zurück in das unschuldige, liebenswürdige Kind verwandelt.

Fast zur Nebensache gerät hierbei die Tatsache, dass Systemsprenger vor allem als Anklage eines Sozialsystems angelegt ist, durch die die Überforderung des Staats mit Kindern wie Benni auf bestürzende Weise sichtbar gemacht wird. Die 9-jährige Protagonistin ist jedoch der tosende Wirbelsturm von Nora Fingscheidts Film, in dessen Inneres das Publikum immer wieder gestoßen wird.

Noch unvermittelter wird der Zuschauer in die grausame Realität von Sven Taddickens Das schönste Paar gestoßen. In dem finsteren Drama vergehen nur wenige Minuten, bis man in einer kaum zu ertragenden Szene Zeuge davon wird, wie das Ehepaar Malte und Liv im Sommerurlaub von einer Gruppe Jugendlicher überfallen, terrorisiert und die Frau von einem der Angreifer vergewaltigt wird.

Das schönste Paar

Im Anschluss daran entwickelt sich Das schönste Paar zur Betrachtung einer schwer belasteten Ehe, in der die langsame Wiederannäherung durch Selbstvorwürfe, gekränkten männlichen Stolz und wiederholt aufgerissene Narben auf die Probe gestellt wird.

Zwei Jahre nach der Tat begegnet Malte dem Täter schließlich erneut, was Das schönste Paar in problematische Gefilde typischer Rape-and-Revenge-Filme rückt. Glücklicherweise beweist sich Sven Taddicken nicht nur als herausragender Schauspielregisseur, sondern auch als hervorragend reflektierter Drehbuchautor.

Stumpfen Rachegelüsten stellt er ein kluges Bewusstsein für moralische Grauzonen gegenüber, in denen er nach komplexen Lösungen für unbegreifliche Herausforderungen forscht. Herausforderungen, vor die Das schönste Paar auch sein Publikum unentwegt stellt.

Der goldene Handschuh hat 2019 vor den Kopf gestoßen

Basierend auf Heinz Strunks populärer Romanvorlage über den Serienmörder Fritz Honka im Hamburg der 1970er, zählt Fatih Akins Verfilmung Der goldene Handschuh zum Brutalsten, Radikalsten sowie Schmutzigsten, was seit vielen Jahren in Deutschland von einem großen Studio in die Kinos gebracht wurde. Die schier unmöglich zu verfilmenden Bilder und die schmuddelige Poesie der Sprache aus Strunks Buch macht sich Akin dabei furios zu eigen.

Zwischen beängstigend intensivem Psychogramm, theaterhafter Inszenierung, erbarmungslosem Horror und der ekelerregenden Ausstattung wirkt Der goldene Handschuh so, als hätten sich Rainer Werner Fassbinder und Jörg Buttgereit für eine Mischung aus trostlosem Sittengemälde und kompromisslosem Genrefilm zusammengeschlossen.

Der goldene Handschuh

Neben der elektrisierenden Darstellung von Hauptdarsteller Jonas Dassler, der mit seiner Rolle als Fritz Honka die furchtloseste Schauspielleistung des Kinojahres hervorgebracht hat, beeindruckt Der goldene Handschuh auch durch die bestürzende Hingabe an Honkas weibliche Opfer.

Deren Körper und vor allem verlebt-hoffnungssuchende Gesichter tastet Akin in ausgiebigen Nahaufnahmen ab, um auch den letzten Funken Mitgefühl und Zuneigung im Angesicht des schwer auszuhaltenden Szenarios nicht erlischen zu lassen.

Wintermärchen ist die unzumutbare Grenzerfahrung 2019

Einen vergleichbar schonungslosen Blick in den Abgrund der deutschen Seele als verlorene Nation hatte das hiesige Kino 2019 nur noch mit Wintermärchen zu bieten. In dem schockierend-aufwühlenden Film reduziert Regisseur Jan Bonny Menschen oftmals auf reine Körper.

Körper, die unentwegt Schreie ausstoßen anstatt deutliche Sätze auszusprechen, wie nacktes Fleisch aufeinanderklatschen und im Glimmen der natürlichen Beleuchtung kaum zu erkennen sind, während sie im Rausch des Alkohols und Tötens kaum konkreter erscheinen könnten.

Wintermärchen

Bonnys Porträt eines rechtsextremen Terror-Trios, das in eine wiederkehrende Spirale aus Sex, Alkohol und Mord gerät, entpuppt sich als im besten Sinne fast schon unzumutbarer Film. Ohne komplexere Zusammenhänge beleuchtet der Regisseur die weitläufigen Strukturen des NSU-Netzwerks ebenso vage wie er staatliche Institutionen in diesem Zusammenhang unangetastet lässt.

Stattdessen verschwimmen in Wintermärchen zunehmend Züge einer sadistischen Milieustudie mit tragischen Pfeilern eines Beziehungsdramas zwischen den drei Hauptfiguren. Ganz ohne Musikuntermalung wird das ständige Schreien und Brüllen zur eigenen Tonkulisse dieses vermutlich am schwersten zu ertragenden deutschen Films 2019. Eine Grenzerfahrung, die im deutschen Kino so nur noch selten vorzufinden ist.

Was waren eure deutschen Kino-Highlights 2019?

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