26 Rollen von 70mm-Film, die um die 150 Kilogramm wiegen, wurden nach Venedig verschifft für die Weltpremiere von The Brutalist. 215 Minuten Laufzeit verschlingt der Film, abzüglich einer viertelstündigen Intermission, die ihn in zwei Kapitel aufspaltet. The Brutalist ist ein gewaltiger Amerika-Roman in Filmform, ein Epos, das eine ganze Ära durchforsten will.
Beim diesjährigen Filmfestival in Venedig markiert der neue Film von Brady Corbet (Vox Lux) den ersten Markstein im Wettbewerb. Er lädt dazu ein, sich an ihm zu reiben, sich abzuarbeiten und Stellung zu beziehen. "Was hältst du von The Brutalist?" wird vielleicht nicht zum Standard bei Flirts über Espresso und Aperol, sollte es aber sein. So ein Film wird – mit allen seinen Stärken und Schwächen – nicht alle Tage in die Welt gesetzt.
The Brutalist beginnt mit einer Wiedergeburt nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach Oppenheimer haben wir diesmal eine fiktionale Biografie mit einem monumentalen Bildformat und einer ebenbürtigen Länge vor uns. Dabei nutzt Corbet seine Beschaffenheit (das aus den 50ern stammende VistaVision-Format) und sein Material (Film) wie der Architekt eines brutalistischen Bauwerks seine kahlen Betonwände und klaren Linien.
Eröffnet wird The Brutalist vom Flackern im Dunkeln, es fühlt sich an wie eine Geburt – oder eine Auferstehung von den Toten. László Tóth (Adrien Brody) gräbt sich durch den Bauch eines Schiffes bis ans blendende Tageslicht. Eine goldene Fackel schlittert durch den Frame. Die Freiheitsstatue heißt den ungarischen Juden 1947 in den Vereinigten Staaten von Amerika willkommen. László ist dem Holocaust in Europa entkommen. Nun will er in Philadelphia ein neues Leben starten.
Während er auf die Wiedervereinigung mit seiner verloren geglaubten Frau Erzsébet (Felicity Jones) wartet, schlägt er sich in der Stadt der brüderlichen Liebe im Möbelgeschäft seines Cousins Attila (Alessandro Nivola) durch. Der erhält den Auftrag, die Bibliothek des Unternehmers Harrison Van Buren (Guy Pearce) umzugestalten. Es soll eine Geburtstagsüberraschung des verzogenen Sohnes (Joe Alwyn) für den Vater werden. Für László eine willkommene Herausforderung, denn in seiner Heimat war er ein gefeierter Architekt. Das Band zwischen Künstler und Mäzen ist geknüpft, oder sollte man besser sagen: die Ketten.
Die Vergleiche zu Der Pate und There Will Be Blood stimmen nicht ganz
In den ersten Reaktionen aus Venedig hat diese Geschichte Vergleiche zu There Will Be Blood bis Der Pate auf sich gezogen, was ich durchaus nachvollziehen kann. Das Drehbuch von Brady Corbet und Mona Fastvold spielt in derselben Ära wie die Pate-Filme, während das Figuren-Duo Erinnerungen an Daniel Plainview und Eli Sunday heraufbeschwört. Van Buren wird als Selfmademan skizziert. Sein Denkmal setzt er auf einen riesigen grünen Hügel hinter seiner Villa. Er baut sich eine eigene "City upon a Hill", um mal das biblische Bild zu gebrauchen, das seit Jahrzehnten für das Sendungsbewusstsein der USA herhalten muss.
Adrien Brodys László Tóth wurde dagegen um seine Fundamente beraubt und spritzt sich zur Linderung Drogen. Er ist einer dieser Menschen, von denen auf dem Sockel der Freiheitsstatue die Rede ist: "Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen …" Und wie in Der Pate oder There Will Be Blood wird er erfahren, wie viel Güte der amerikanische Kapitalismus bereithält.
The Brutalist fühlt sich allerdings anders an als die pastoralen Epen von Coppola und Anderson. Gerade in der ersten Hälfte schwirrt der Film mit einem Esprit und Improvisationsgeist, den ich eher beim Independent-Kino oder im europäischen Arthouse verorten würde. Wenn László bei einem seiner Jobs auf einem Hafenkran weit über dem von Kohlestaub verschmierten Boden klettert, kann man die Freiheit förmlich riechen. Das ist mehr Martin Eden als Michael Corleone. Dadurch erscheint der Film manchmal zerfasert, aber stets frisch. Tatsächlich rieseln die 200 pausenlosen Minuten schneller durch den Projektor, als man es bei diesem Thema oder diesem Regisseur vermuten würde.
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Guy Pearce sorgt für die größten Lacher und Schreckminuten
Der ehemalige Schauspieler und derzeitige Regisseur Brady Corbet hat seine ersten beiden Filme The Childhood of a Leader und Vox Lux mit einem übertrieben ernsten Autorenfilmer-Gestus erzählt. Als hätte die Zeit bei Haneke am Set von Funny Games U.S. abgefärbt. The Brutalist gibt sich durchlässiger.
Adrien Brodys natürliches Spiel lockert den ganzen Film auf, er nimmt einen gewissermaßen bei der Hand und reißt einen in einem Schwung über den Atlantik bis nach Philadelphia. Die größten Lacher und Schreckminuten gehören aber dem fantastischen Guy Pearce als Van Buren. Der schmückt sich mit Kultur und Schönheit, bewegt sich aber so steif durch die Kulisse, als müsse er morgens einen Menschenanzug überstreifen, damit niemand sein wahres Gesicht sieht.
Erst im zweiten Kapitel gerät The Brutalist leicht ins Stocken, da Felicity Jones' Casting entweder ein einziger Joke ist, den mir jemand erklären muss, oder eine traurige Fehlbesetzung. Die von der Verfolgung und Nachkriegsodyssee gezeichnete Erzsébet spielt sie in etwa so natürlich wie Rami Malek seinen Freddie Mercury. Darüber kann man allerdings hinwegsehen. The Brutalist nähert sich dem Gros seiner gewaltigen Ansprüche an, ohne unter der Last zu brechen.
The Brutalist ist kein Film für Superreiche
Allen Vergleichen zum Trotz nimmt The Brutalist in der gegenwärtigen Filmlandschaft eine einmalige Stellung ein. Man könnte wohl ebenso ein Drehbuch darüber schreiben, wie Corbet und Fastvold ihr Großprojekt über sieben Jahre, mehrere wankelmütige Finanziers und eine Pandemie hinweg zustande gebracht haben. Im Grunde ist The Brutalist aber bereits dieser Film.
Das naheliegende Vorbild davon heißt nicht Der Pate oder There Will be Blood, sondern The Fountainhead. In dem Roman entwirft Ayn Rand das Porträt ihres idealen Amerikaners: ein innovativer Architekt, ein Mann, der mit Hand und Hirn arbeiten kann, und bei seiner künstlerischen Vision keinen Zoll zurückweicht. Dank eines Geldgebers baut er einen Wolkenkratzer, der alle Zweifler und Konformisten im Staub zurücklässt. Es ist eine Geschichte, die einem Harrison Van Buren gefallen würde, so wie sie Elon Musk und anderen Superreichen gefällt. The Brutalist erzählt seine eigene Geschichte, aber nicht für Musk, sondern für den Rest der Welt.
The Brutalist hat noch keinen deutschen Verleih und Kinostart und das sollte schleunigst geändert werden.